Gilbert, Elizabeth
zu tun. Es
war das einfachste und grundlegendste Geschehen überhaupt. Es war der Himmel,
ja. Es war die tiefste Liebe, die ich jemals erlebt hatte und die alles
überstieg, was ich mir vorher hätte vorstellen können, aber es war nicht euphorisch.
Nicht erregend. Ich hatte nicht mehr genug Ego oder Leidenschaft in mir, um
Euphorie oder Erregung zu empfinden. Es war einfach offensichtlich. Als hätte
man lange eine optische Täuschung angestarrt, sich die Augen verrenkt, um den
Trick zu entdecken, und plötzlich ändert sich die Wahrnehmung und - siehe da!
- die Vase ist keine Vase, sondern zwei Gesichter. Und kaum hat man die
optische Täuschung durchschaut, ist sie für immer verloren.
Das also ist Gott, dachte ich mir. Gratuliere,
Sie kennen zu lernen.
Die Stelle, an der ich stand, lässt sich nicht wie ein
irdischer Ort beschreiben. Sie war weder hell noch dunkel, weder groß noch
klein. Noch war sie ein Ort, noch stand ich, im wahrsten Sinne des Wortes,
dort, noch war ich tatsächlich ein »Ich«. Meine Gedanken hatte ich zwar immer
noch, aber sie waren so ruhig, bescheiden und beobachtend. Nicht nur vorbehaltloses
Mitgefühl und Einssein mit allem und jedem spürte ich, sondern wunderte mich
auch, dass man überhaupt etwas anderes fühlen konnte. Auch meine früheren
Grübeleien berührten mich kaum mehr. Ich bin eine Frau, ich komme aus
Amerika, ich bin eine Plaudertasche, ich bin Schriftstellerin - das
alles kam mir so niedlich und obsolet vor. Sich vorzustellen, dass man sich in
ein so winziges Identitätskästchen quetschte, wenn man stattdessen seine Unendlichkeit
erfahren konnte!
Warum bin ich mein Leben lang dem Glück nachgejagt, wo die
Seligkeit doch immer zum Greifen nah war?, fragte ich mich.
Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem großartigen Äther
schwebte, als es mich plötzlich und eindringlich durchfuhr: »Ich will diese
Erfahrung für immer festhalten!« Und da begann ich aus ihr herauszufallen.
Zwei Wörtchen - Ich will! - genügten, und schon glitt ich
wieder zur Erde zurück. Und da begann mein Geist dann wirklich zu protestieren: Nein! Ich will nicht von hier weg! Und ich
schlitterte weiter.
Ich will!
Ich will nicht!
Ich will!
Ich will nicht!
Und mit jeder Wiederholung dieser
verzweifelten Beschwörungen spürte ich, wie ich durch eine Illusion nach der
anderen stürzte, wie der Held einer Action-Komödie, der bei seinem Fall von
einem Hochhaus durch ein Dutzend Segeltuchplanen kracht. Diese Rückkehr
sinnlosen Verlangens reduzierte mich wieder auf meine limitierte kleine
Comic-Strip-Welt. Ich sah mein Ego zurückkehren, wie man die Entwicklung eines
Polaroidfotos verfolgt - hier ist das Gesicht, da die Falten um den Mund, da
die Augenbrauen - ja, jetzt ist es fertig: das Bild meines gewohnten alten
Ichs. Ich verspürte ein panisches Zittern, es brach mir fast das Herz, die göttliche
Erfahrung verloren zu haben. Aber im selben Moment registrierte ich auch einen
Zeugen, ein weiseres und älteres Ich, das den Kopf schüttelte und lächelte,
denn es wusste: Falls ich mir einbildete, dass man mir diesen Zustand der
Seligkeit entreißen konnte, dann hatte ich ihn offenbar immer noch nicht
begriffen. Deshalb war ich auch nicht imstande, mich dauerhaft in ihm
aufzuhalten. Ich würde weiter üben müssen. In diesem Augenblick der Erkenntnis
ließ Gott mich fahren, ließ mich mit der folgenden mitfühlenden und
unausgesprochenen Botschaft durch seine Finger gleiten:
Wenn du einmal begriffen hast, dass du immer da bist,
darfst du wiederkommen.
68
Zwei Tage später ging das Seminar zu Ende, und alle kamen
aus ihrem Schweigen heraus. Ich wurde unglaublich oft in die Arme geschlossen -
von Leuten, die mir dafür dankten, dass ich ihnen geholfen hätte.
»Aber nein! Ich danke euch«, wiederholte
ich immer wieder und war frustriert, wie unangemessen das klang, wie unmöglich
es mir war, meinen tiefen Dank dafür, dass sie mich in derartige Höhen gehoben
hatten, auszudrücken.
Eine Woche später trafen weitere hundert Suchende zu einer
weiteren Einkehr ein, und die Belehrungen, die mutigen inneren Kämpfe und das
alles durchdringende Schweigen wiederholten sich. Ich wachte auch über diese
neuen ringenden Seelen, versuchte, auch ihnen auf jede nur denkbare Weise
beizustehen, und glitt auch mit ihnen einige Male in den turiya-Zustand. Später, als viele von ihnen nach der Meditation zu mir kamen und
erzählten, dass sie mich während der Einkehrtage als »stille,
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