Gilbert, Elizabeth
entschlüsseln, als das komplizierte Clansystem
zu durchschauen, das hier noch immer gedeiht. (Fred B. Eisemen untersuchte
diese Feinheiten in seinen hervorragenden Essays noch viel detaillierter und
fachkundiger, und seinen Forschungsarbeiten entnehme ich den größten Teil
meiner allgemeinen Informationen, nicht nur an dieser Stelle.) Für unsere
Zwecke aber mag es genügen zu wissen, dass jeder auf Bali einem Clan angehört und
jeder sich sowohl seiner eigenen Clanzugehörigkeit als auch der seiner
Mitmenschen stets bewusst ist. Falls man aber aufgrund eines schwerwiegenden
Akts von Ungehorsam aus seinem Clan fliegt, kann man sich im Grunde gleich in
einen Vulkankrater stürzen, denn man ist so gut wie gestorben.
Die balinesische Kultur ist eines der methodischsten Systeme
gesellschaftlicher und religiöser Organisation auf Erden, eine großartige
Ameisenkolonie. Die Balinesen »stecken buchstäblich fest«, sind vollständig
eingebunden in ein Netz aus Regeln und Gebräuchen, das sie in keinem Augenblick
ihres Lebens zweifeln lässt, wer sie sind und was sie zu tun haben. Entstanden
ist dieses Netzwerk durch eine Kombination verschiedener Faktoren,
grundsätzlich aber kann man sagen, dass die balinesische Gesellschaft das
Resultat dessen ist, was sich entwickelt, wenn man die verschwenderischen
Rituale des traditionellen Hinduismus einer überwiegend Reis anbauenden
Agrargesellschaft überstülpt, die nur auf der Basis gut organisierter
dörflicher Zusammenarbeit funktionieren kann. Reisterrassen erfordern, will
man hohe Erträge erzielen, gemeinsame Arbeit, Pflege und Maschinennutzung, so
dass jedes balinesische Dorf einen banjar, eine
Bürgervereinigung, besitzt, die in den politischen und ökonomischen,
religiösen und agrarischen Angelegenheiten entscheidet. Das Kollektiv ist auf
Bali wichtiger als das Individuum, einfach deshalb, weil sonst keiner zu essen
hätte.
Religiöse Rituale sind von höchster Bedeutung auf Bali
(einer Insel mit - nicht zu vergessen - sieben tätigen Vulkanen; da würden
auch Sie beten!). Selbstverständlich sind solche Rituale auch für
Hindus in Indien bedeutsam, doch für die Balinesen sind die Zeremonien
unumgänglich und endlos. Man schätzt, dass die Durchschnittsbalinesin ein
Drittel ihrer wachen Zeit entweder mit der Vorbereitung auf eine Zeremonie, mit
der Teilnahme daran oder dem Aufräumen danach zubringt. Das Leben ist eine
beständige Abfolge von Opfern und Ritualen, die alle in der richtigen Reihenfolge
und in der rechten Absicht zu vollziehen sind, da andernfalls das gesamte
Universum aus dem Gleichgewicht geraten würde. Margaret Mead schrieb über »die
unglaubliche Emsigkeit« der Balinesen, und es stimmt: In einem balinesischen
Haushalt wird man kaum einen Augenblick der Muße erleben. Es gibt hier
Zeremonien, die fünfmal am Tag, und andere, die einmal pro Tag, einmal pro
Woche, einmal im Jahr, einmal alle zehn, alle hundert Jahre oder alle tausend
Jahre durchgeführt werden müssen. All diese Daten und Rituale werden überwacht
von Priestern und heiligen Männern, die ein System von drei unterschiedlichen
Kalendern konsultieren, welches auf einem System von Wochen basiert, die zuweilen
sieben Tage, dann aber je nach Sternenkonstellation auch wieder vier, acht,
neun oder zehn Tage haben.
Für jeden Balinesen gibt es dreizehn wichtige Übergangsriten,
ein jeder von ihnen gekennzeichnet durch eine bis ins Kleinste geregelte
Zeremonie. Das ganze Leben hindurch werden komplizierte spirituelle Zeremonien
begangen, um die Seele zu besänftigen und vor den hundertacht Lastern
(hundertacht - da haben wir die Zahl wieder!) zu schützen, zu denen etwa
Gewalt, Stehlen, Faulheit und Lügen zählen. Jeder Balinese unterzieht sich beim
Eintritt in die Pubertät einer wichtigen Zeremonie, bei der man ihm die
Eckzähne oder »Fänge« abfeilt. Das Schlimmste, was man auf Bali sein kann, ist
grob und animalisch, und diese Fänge werden als Erinnerung an unsere brutalere
Natur betrachtet und müssen daher verschwinden. Brutal zu sein ist in einer so
eng verwobenen Gesellschaft wie der balinesischen gefährlich. Höflichkeit ist
lebenswichtig. Die mörderische Absicht eines Einzelnen kann das gesamte Gewebe
der dörflichen Zusammenarbeit zerreißen. Das Beste, was man auf Bali sein kann,
ist daher alus, was so viel wie »verfeinert« oder
auch »verschönert« heißt. Schönheit ist gut auf Bali, für Männer ebenso wie für
Frauen. Schönheit wird verehrt. Schönheit bedeutet
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