Gilbert, Elizabeth
Sicherheit. Kinder lehrt
man, alle Mühen und Beschwerden »strahlend« anzugehen, mit einem riesigen
Lächeln.
Ganz Bali stellt man sich als Matrix vor, als ein riesiges
unsichtbares Gitternetz aus Pfaden und Gebräuchen. Jeder Balinese kann mit
Sicherheit genau sagen, wo er sich in jedem Augenblick befindet, indem er sich
an dieser virtuellen Karte orientiert. Man muss sich nur die vier Namen
vergegenwärtigen, die fast jeder Einwohner Balis trägt - Erste/r, Zweite/r,
Dritte/r, Vierte/r - und die ihn daran erinnern, wann er in eine Familie
hineingeboren wurde und wohin er gehört. Man hätte kein klareres soziales
Kartografiersystem, wenn man seine Kinder Nord, Süd, Ost und West nennen würde.
Mario, mein italienisch-indonesischer Freund, hat mir erzählt, dass er nur dann
glücklich ist, wenn er sich - mental wie spirituell - an der Kreuzung zwischen
einer senkrechten und einer waagerechten Linie aufhalten kann, in einem
Zustand vollkommener Balance. Dazu aber muss er jeden Augenblick wissen, wo er
sich befindet, sowohl in seiner Beziehung zum Göttlichen als auch in der
Beziehung zu seiner Familie hier auf Erden. Wenn er dieses Gleichgewicht
verliert, verliert er auch seine Kraft.
Zu behaupten, die Balinesen seien Weltmeister der Balance,
Menschen, für die die Aufrechterhaltung des perfekten Gleichgewichts sowohl
Kunst und Wissenschaft als auch Religion sei, ist daher keineswegs lächerlich.
Zwar hatte ich bei meiner persönlichen Suche nach Balance gehofft, von den
Balinesen einiges darüber lernen zu können, wie man in dieser chaotischen Welt
Gelassenheit bewahrt. Doch je mehr ich über diese Kultur lese, umso mehr
erkenne ich auch, wie weit ich aus diesem Balance-Raster herausgefallen bin,
wenigstens aus balinesischer Sicht. Meine Angewohnheit, unbekümmert um meine
physische Orientierung durch die Welt zu tingeln, ebenso wie meine
Entscheidung, aus dem Netzwerk meiner Ehe herauszutreten, macht mich - aus
balinesischer Sicht - zu einer Art Gespenst. Ich lebe gern so, aber aus der
Sicht eines Balinesen, der etwas auf sich hält, ist mein Leben ein Albtraum.
Denn wie soll eine Frau, die nicht weiß, wer sie ist und zu wessen Clan sie
gehört, ihr Gleichgewicht finden?
Angesichts all dessen bin ich mir nicht so sicher, wie
viel von der balinesischen Weltsicht ich in meine eigene einbauen kann, da ich
momentan einen moderneren und westlicheren Balance-Begriff vorzuziehen
scheine, nämlich equilibrium (zurzeit übersetze ich ihn mit
»gleicher Freiheit« beziehungsweise der Möglichkeit, mich in jedem beliebigen Moment
in jede beliebige Richtung treiben zu lassen, je nachdem ..., wie es so läuft).
Die Balinesen warten nicht und schauen nicht, »wie es so läuft«. Das wäre ihnen
zu beängstigend. Sie organisieren alles, um zu vermeiden, dass die Dinge
irgendwohin treiben.
Wenn man auf Bali eine Straße entlangläuft und einem ein
Fremder entgegenkommt, fragt dieser einen als Erstes: »Wo wollen Sie hin?« Die
zweite Frage lautet: »Wo kommen Sie her?« In den Ohren eines Westlers klingt
eine solche Frage - aus dem Munde eines völlig Fremden - aufdringlich und indiskret,
aber die hiesigen Menschen versuchen nur, sich ein Bild von Ihnen zu machen,
sich zu orientieren und Sie zum Zwecke ihrer eigenen Beruhigung und Sicherheit
in ein Raster einzuordnen. Wenn Sie ihnen erzählen, dass Sie nicht wissen,
wohin Sie gehen, oder dass Sie nur ziellos herumstreifen, könnten Sie eine
gewisse Verzweiflung im Herzen Ihres Gegenübers auslösen. Es ist viel besser,
sich auf irgendein Ziel festzulegen, egal, wie vage. Nennen Sie ihm eine klare
Richtung, egal, welche - nur damit es allen besser geht.
Die dritte Frage, die Ihnen ein Balinese mit fast hundertprozentiger
Sicherheit stellen wird, lautet: »Sind Sie verheiratet?« Wieder handelt es
sich um eine Orientierungsfrage, die dazu dient, das Gegenüber zu
positionieren. Balinesen müssen das wissen, damit sie sicher sein können, dass
in Ihrem Leben auch alles in Ordnung ist. Sie wollen, dass Sie Ja sagen. Sie
sind sehr erleichtert, wenn Sie die Frage bejahen. Sollten Sie unverheiratet
sein, ist es besser, das nicht direkt zu sagen. Und eine Scheidung, falls Sie
zufällig eine hinter sich haben, sollten Sie - das lege ich Ihnen wirklich ans
Herz - überhaupt nicht erwähnen. Es stürzt die Balinesen einfach in zu große
Nöte, denn Ihre Scheidung beweist ihnen nämlich, dass Sie aus dem Raster gefallen
sind. Falls Sie eine unverheiratete Frau sind und jemand sie
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