Gilbert, Elizabeth
danach beginne ich aus irgendeinem Grund, über Felipe
nachzudenken. Nett ist er, dieser Felipe. Ich sei jung und schön, hat er
gemeint, und würde auf Bali eine herrliche Zeit haben. Recht hat er, oder? Ich
sollte mich entspannen und mich amüsieren, oder? Aber heute Morgen fühlt es
sich nicht so toll an. Eher beängstigend und gefährlich.
Ich weiß nicht mehr, wie es geht.
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»Was ist diese Leben? Verstehst du? Ich nicht.« Es war
Wayan, die da redete.
Wieder saß ich in ihrem Restaurant und aß ihren köstlichen
und nahrhaften Multivitamin-Special, in der Hoffnung, er werde meinen Kater und
meinen Kummer lindern. Armenia, die Brasilianerin, war ebenfalls da und sah
aus wie immer, als habe sie bei ihrer Rückkehr von einem Wellness-Wochenende
noch kurz im Kosmetiksalon vorbeigeschaut. Die kleine Tutti hockte auf dem
Fußboden und zeichnete, wie gewohnt, Bilder von Häusern.
Wayan hatte soeben erfahren, dass sich die Miete für ihren
Laden Ende August - das war in drei Monaten - erhöhen würde. Wahrscheinlich
würde sie wieder umziehen müssen, da sie sich die höhere Miete nicht leisten
konnte. Sie hatte nicht einmal fünfzig Dollar auf der Bank. Ein Umzug würde
außerdem für Tutti einen weiteren Schulwechsel bedeuten. Sie brauchten ein
Heim, ein wirkliches Heim. Ohne Heim hatten Wayan und Tutti auch keinen Tempel,
in dem sie ihre Schutzgötter anrufen konnten; denn Heimatlosigkeit bedeutete,
dass es ihren Engeln schwer fallen würde, sie zu finden und ihnen in der Stunde
der Not beizustehen. Immer noch waren Tuttis Nabelschnur und Plazenta nicht in
einer Kokosnussschale im Boden vergraben, wie es sich gehörte, sondern steckten
- beschämenderweise - in einem Topf neben der Eingangstür des Ladens, direkt
an der Straße. Ein Balinese kann so nicht leben.
»Warum hört Leiden nie auf?«, fragte Wayan. Sie weinte
nicht, stellte nur müde eine berechtigte Frage, auf die es keine Antwort gab.
»Warum muss alles wiederholen, nur wiederholen, nie aufhören, nie Ruhe? Nie
Frieden? Man arbeitet so schwer ganze Tag, und nächste Tag muss wieder nur
arbeiten. Man isst, aber nächste Tag wieder hungrig. Man findet Liebe, aber
Liebe vergeht. Man liebt Eltern, aber Eltern sterben. Man ist glücklich, aber
nächste Tag alles vorbei und man traurig. Mensch wird mit nichts geboren - ohne
Uhr, ohne T-Shirt. Arbeitet hart und stirbt mit nichts - ohne Uhr, ohne
T-Shirt. Ist jung und plötzlich alt. Egal, wie viel er arbeitet, wird alt.«
»Armenia nicht«, witzelte ich.
»Aber nur«, meinte Wayan, die inzwischen wusste, wie der
Hase läuft, »weil sie Brasilianerin ist.« Wir lachten, aber es war eine Art
Galgenhumor, denn an Wayans gegenwärtiger Lage gibt es nichts zu lachen. Sie
lebt als allein erziehende Mutter von der Hand in den Mund und ist von Obdachlosigkeit
bedroht. Die Miete für den Laden beträgt umgerechnet etwa hundertdreißig Dollar
im Monat, die Wayan nur mit äußerster Mühe aufbringen kann. Doch wo soll sie im
Falle eines Umzugs hin? Bei der Familie des Exmanns kann sie natürlich nicht
leben. Wayans eigene Verwandte sind Reisbauern und extrem arm. Wenn sie zu
ihnen aufs Land zöge, würde das das Aus für ihre Praxis als Heilerin bedeuten,
weil ihre Patienten aus der Stadt sie dann nicht mehr erreichen könnten. Und
dass Tutti dann noch genug lernen würde, um später einmal Tiermedizin zu
studieren, darf man bezweifeln.
Im Laufe der Zeit erfahre ich noch andere Dinge. Etwa über
die zwei schüchternen Mädchen, die mir schon am ersten Tag auffielen, als sie
sich in der Küche versteckten. Wie sich herausstellt, sind es zwei
Waisenmädchen, die Wayan bei sich aufgenommen hat. Beide heißen (um hier noch
mehr Verwirrung zu stiften) Ketut, und wir nennen sie die große und die kleine
Ketut. Vor ein paar Monaten hat Wayan die beiden bettelnd und fast verhungert
auf dem Marktplatz von Übud entdeckt. Ausgesetzt von einer Frau, die sich als
eine Art »Zuhälterin« betätigt, indem sie elternlose Kinder auf verschiedenen
Marktplätzen auf ganz Bali aussetzt, sie am Abend mit einem Lieferwagen wieder
einsammelt, ihnen das Geld abknöpft und sie in irgendeinem Verschlag
übernachten lässt. Als Wayan die beiden Ketuts entdeckte, hatten sie tagelang
nichts mehr zu essen bekommen, hatten Läuse und wirkten völlig verwahrlost.
Sie schätzt die Jüngere auf etwa zehn, die Ältere auf dreizehn Jahre, aber die
beiden kennen weder ihr Alter noch ihren Familiennamen. (Die kleine Ketut
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