Gilbert, Elizabeth
weiß
lediglich, dass sie im selben Jahr wie »das große Schwein« in ihrem Dorf
geboren ist - was natürlich kein brauchbarer Anhaltspunkt ist.) Wayan sorgt so
liebevoll für sie wie für ihre eigene Tochter. Sie und die drei Kinder teilen
sich im Schlafzimmer hinter dem Laden eine Matratze.
Wie eine balinesische Alleinerziehende, der die Zwangsräumung
droht, es schafft, zwei elternlose Kinder bei sich aufzunehmen und für sie zu
sorgen, ist etwas, das meine Vorstellung von Mitgefühl weit übersteigt. Ich
will ihnen helfen.
Das war es. Das hatte das Zittern zu bedeuten, das ich so
deutlich gespürt hatte, als ich Wayan kennen lernte. Ich wollte diese allein
erziehende Mutter mit ihrer Tochter und ihren Waisenkindern unterstützen. Ich
wollte ihnen auf diskrete Weise zu einem besseren Leben verhelfen. Ich wusste
nur noch nicht, wie. Sollte ich vielleicht die Miete für sie zahlen? Ihnen das
Motorrad kaufen, das sie brauchten, um mobil zu sein? Tutti die Ausbildung
finanzieren? Nichts von alldem schien auszureichen; sie benötigten alles, sogar
Socken und Besteck. Und seit ich Tag für Tag mit der kleinen Familie zusammen
war und mich immer mehr in sie vernarrte, war das Gefühl, helfen zu müssen, nur
noch stärker geworden. Vor allem Tutti hatte es mir angetan. Und wer hätte
Tutti nicht geliebt, die jeden Tag Häuser und Regenbogen zeichnete und die
jedes Mal, wenn ich mich dem Laden näherte, auf mich zustürzte und rief: »Ich
kaufe Geschenk für dich heute Morgen auf Markt, Mama Elizabeth! Es ist zwei
Erdbeeren!«
Als Wayan, Armenia und ich heute zu Mittag aßen und unsere
üblichen Gespräche über Gott und die Welt führten, blickte ich zu Tutti hinüber
und bemerkte, dass sie etwas ziemlich Merkwürdiges tat. Sie wanderte mit einer
kleinen, fünf mal fünf Zentimeter großen kobaltblauen Keramikfliese um das
Haus herum und summte leise vor sich hin. Ich beobachtete sie eine Weile, um
zu sehen, was sie vorhatte. Lange Zeit spielte Tutti so mit dieser Fliese,
warf sie in die Luft, flüsterte ihr etwas zu und schob sie dann über den Boden,
als sei sie ein Matchbox-Auto. Schließlich setzte sie sich darauf, mit
geschlossenen Augen, und sang vor sich hin - völlig abgetaucht in eine
unsichtbare Welt, die nur ihr gehörte.
Ich fragte Wayan, was das zu bedeuten habe. Tutti, erklärt
sie, habe die Fliese auf der Baustelle eines Hotels unweit des Ladens gefunden
und eingesteckt. Seit Tutti die Fliese gefunden habe, sage sie immer wieder zu
ihrer Mutter: »Wenn wir einmal ein Haus haben, wird es vielleicht einen schönen
Boden haben wie dieser.« Wayan zufolge kauert sich Tutti nun oft stundenlang
auf das kleine Quadrat, schließt die Augen und träumt, sie befände sich in
ihrem eigenen Haus.
Als ich die Geschichte hörte und das Kind betrachtete, das
in tiefer Meditation versunken auf seiner kleinen blauen Fliese saß, sagte mir
mein Gefühl: Okay, jetzt reicht's.
Und ich entschuldigte mich und ging, um diesen unerträglichen
Zustand ein für alle Mal zu beenden.
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Manchmal, wenn sie ihre Patienten behandle, erzählte mir
Wayan, werde sie völlig durchlässig für Gottes Liebe und höre auf, darüber
nachzudenken, was als Nächstes zu tun sei. Der Geist versiege, die Intuition
übernehme die Führung, und dann müsse sie nur noch zulassen, dass die
Göttlichkeit sie durchströme. »Es ist, als ob ein Wind käme und meine Hände
nähme«, sagte sie.
Vielleicht war es dieser Wind, der mich an diesem Tag aus
Wayans Restaurant hinauswehte, mich aus meinen Grübeleien darüber, ob ich mich
wieder mit Männern einlassen sollte oder nicht, herausriss und meine Schritte
in Übuds Internetcafe lenkte, wo ich mich hinsetzte und zügig einen
Spendenaufruf an meine Freunde und Verwandten in aller Welt verfasste.
Ich teilte allen mit, dass ich im Juli Geburtstag hätte,
demnächst also fünfunddreißig Jahre alt würde. Und dass es nichts gebe auf
dieser Welt, was ich brauchte oder mir wünschte, ja, dass ich nie im Leben
glücklicher gewesen sei (trotz gelegentlicher Anwandlungen wegen irgendwelcher
Männer). Ich dankte ihnen für alles, was sie in den letzten Jahren für mich
getan hatten, um mir über meine Post-Scheidungsdepression hinwegzuhelfen. Wäre
ich daheim in New York - schrieb ich ihnen -, würde ich eine große Geburtstagsparty
schmeißen und sie alle einladen, und sie würden mir Geschenke und Weinpräsente
kaufen müssen, und die ganze Feier würde wohl Unsummen verschlingen. Und daher
sei
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