Gilbert, Elizabeth
ganze Wochenende in unseren Pyjamas
verbringen. Dann essen wir die Cornflakes direkt aus der Packung und hängen vor
der Glotze (was zwar gewiss das Gegenteil von arbeiten ist, aber nicht dasselbe
wie Vergnügen). Auf das Nichtstun verstehen
sich Amerikaner im Grunde überhaupt nicht. Das ist der Grund für jenes traurige
amerikanische Stereotyp - den völlig gestressten Manager, der in Urlaub fährt,
aber nicht ausspannen kann.
Ich habe Luca Spaghetti einmal gefragt, ob auch Italiener dieses
Problem kennen. Er lachte so schallend, dass er sein Motorrad fast in einen
Brunnen gefahren hätte.
»Oh nein!«, sagte er. »Wir sind die Meister des dolce far niente.«
Eine hinreißende Wendung. Dolce far niente heißt »das süße Nichtstun«. Doch ob Sie es glauben oder nicht: Die Italiener
waren immer fleißige Leute, vor allem jene schwer geprüften Arbeiter aus dem
Süden, die man braccianti nannte (und die so hießen, weil
sie nichts als die Kraft ihrer Arme - braccia - besaßen,
um auf dieser Welt zu überleben). Aber auch vor dem Hintergrund schwerer Arbeit
war dolce far niente immer ein hochgeschätztes
italienisches Ideal. Ziel aller Arbeit, die größte Errungenschaft, zu der man
am meisten beglückwünscht wird, ist das süße Nichtstun. Und je exquisiter und
wunderbarer man es zelebriert, umso beachtlicher ist die Lebensleistung. Und
man muss auch nicht reich sein, um es zu erleben. Eine andere sympathische
Redewendung lautet: l'arte d'arrangiarsi-Ate Kunst, aus
nichts etwas zu machen. Aus ein paar schlichten Zutaten ein Festmahl und aus
einem Treffen von Freunden eine Party. Das kann jeder, der das Talent zum
Glücklichsein hat, nicht nur die Reichen.
Das Haupthindernis, das mir beim Streben nach Genuss im
Wege stand, war allerdings mein tief verwurzeltes puritanisches Schuldgefühl.
Steht mir dieses Vergnügen denn überhaupt zu? Und auch das ist sehr
amerikanisch - diese Unsicherheit bei der Antwort auf die Frage, ob wir uns
unser Glück auch verdient haben. Bei der amerikanischen Firma Planet Advertising dreht sich alles darum, den unsicheren Konsumenten davon zu
überzeugen, dass er eine Belohnung auch tatsächlich verdient hat. Heute
haben Sie sich eine Pause verdient! Weil Sie es wert sind! Du hast einen
weiten Weg hinter dir, Baby! Und der unsichere Verbraucher
denkt: Jawohl! Danke! Und jetzt kauf ich mir 'n Sixpack,
verdammt! Ja, vielleicht sogar zwei! Und dann kommt das Saufgelage.
Gefolgt von der Reue. Derartige Werbekampagnen würden in Italien, wo die
Menschen seit jeher wissen, dass sie in diesem Leben auch ein Recht auf Freude
und Genuss haben, wohl kaum so verfangen. Die italienische Antwort auf Heute
haben Sie sich eine Pause verdient! wäre wohl: Ja, klar.
Deswegen will ich ja um zwölf Uhr Pause machen - um mal bei dir vorbeizuschauen
und deine Frau flachzulegen.
Das ist wohl auch der Grund, warum meine italienischen
Freunde sich nicht wunderten, als ich ihnen sagte, ich sei nach Italien
gekommen, um mal vier Monate lang nur zu genießen. Complimenti!
Vai avanti! Nur zu! Streng dich an! Weiter so! Keiner hat je gesagt:
»Wie absolut unverantwortlich von Ihnen!« Oder: »Wie hemmungslos!« Doch
obgleich mir die Italiener jeglichen Genuss bedingungslos zugestehen, kann ich
selbst immer noch nicht vollkommen loslassen. Während meiner ersten Wochen
schrillten meine protestantischen Synapsen und suchten verzweifelt nach einer
Aufgabe. Ich wollte das Vergnügen angehen wie eine Facharbeit oder ein
riesiges »Jugend forscht«-Projekt. Ich wälzte Fragen wie die folgende: »Wie
lässt sich der Genuss am effizientesten maximieren?« Und überlegte, ob ich
vielleicht meine gesamte Zeit in Italien in Bibliotheken verbringen sollte, um
die Geschichte des Genusses zu erforschen. Oder sollte ich die Italiener
interviewen, sie fragen, wie sie die zahllosen Freuden in ihrem Leben empfunden
haben, und dann eine Hausarbeit darüber schreiben? (Mit doppeltem Zeilenabstand
und zweieinhalb Zentimeter breitem Rand, abzugeben Montag früh.)
Als mir dämmerte, dass die einzig nahe liegende Frage lautete:
»Was verstehe ich unter Vergnügen?«, und dass ich
mich in einem Land aufhielt, in dem man mir erlaubte, dieser Frage ungehindert
nachzugehen, veränderte sich alles. Alles wurde ... köstlich. Ich musste mich
nur - zum ersten Mal in meinen Leben - jeden Tag fragen: »Was würdest du heute
gerne tun, Liz? Was würde dir jetzt Spaß machen?« Da ich auf niemandes
Tagesablauf Rücksicht nehmen musste und auch
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