Gilbert, Elizabeth
Weg zur Bank, um meine
Stromrechnung zu bezahlen, womit sich Reisende in der Regel ja nicht
herumschlagen müssen. Die Energie, die man aufbringt, um irgendwohin zu reisen,
und die Energie, die es kostet, irgendwo zu wohnen, sind zwei grundlegend verschiedene
Energien, aber irgendwie hatte mir die Begegnung mit der Australierin en route nach
Slowenien wahnsinnig Lust gemacht abzuhauen.
Und deswegen rief ich meine Freundin Sofie an und schlug
ihr vor: »Lass uns doch heute zum Pizzaessen nach Neapel fahren!«
Gesagt, getan. Nur wenige Stunden später sind wir dort.
Ich liebe Neapel auf den ersten Blick. Wildes, raues, lautes, dreckiges Neapel.
Ein gefährliches und fröhliches Irrenhaus. Ein Freund von mir war in den
siebziger Jahren in Neapel und wurde - in einem Museum - fast
überfallen. Die ganze Stadt ist mit Wäsche garniert, die von jedem Fenster
herunterhängt und über allen Gassen baumelt; jedermanns frisch gewaschene
Unterhemden und Büstenhalter flattern im Wind wie tibetanische Gebetsfahnen. In
jeder Straße brüllen sich irgendwelche Knirpse in kurzen Hosen und zwei verschiedenen
Socken etwas zu. In jedem Haus sitzt mindestens eine gebeugte Alte am Fenster
und beobachtet das Treiben auf der Straße.
Die Leute sind so wahnsinnig abgedreht und verrückt hier,
weil sie aus Neapel sind. Und warum auch nicht? Schließlich ist das die Stadt,
die der Welt Pizza und Eiscreme
geschenkt hat. Die Neapolitanerinnen sind stimmgewaltig, großmäulig, generös
und neugierig, furchtbar herrisch und direkt bis zum Gehtnichtmehr, weil sie
dir ja, verdammt noch mal, nur helfen wollen, du dumme Gans. Der
neapolitanische Akzent klingt wie eine freundliche Ohrfeige. Als schlendere man
durch eine Stadt von Schnellköchen, die alle gleichzeitig herumbrüllen.
Dennoch verstehe ich die Neapolitaner besser als die meisten anderen Italiener.
Weshalb? Weil sie wollen, dass man sie versteht, verdammt noch mal. Sie reden
laut und emphatisch, und wenn man sie nicht versteht, kann man das Gemeinte in
der Regel auch ihrer Gestik entnehmen. Wie im Falle dieses kleinen Miststücks,
der Zweitklässlerin, die hinter ihrem älteren Cousin auf dem Moped sitzt und
mir im Vorbeifahren den Finger und ein
charmantes Lächeln zeigt, um mir begreiflich zu machen: Hey,
nichts für ungut, Lady. Ich bin erst sieben und kann schon erkennen, dass du
eine total bescheuerte Kuh bist, aber das ist cool - ich glaube, du bist
trotzdem halbwegs in Ordnung, und irgendwie mag ich dein blödes Arschgesicht.
Wir wissen beide, dass du am liebsten ich wärst, aber tut mir Leid - das geht
nicht. Wie auch immer, hier ist mein Mittelfinger, und viel Spaß noch in Neapel,
ciao!
Wie überall in Italien sieht man auch hier auf den öffentlichen
Plätzen Jungen, die Fußball spielen. In Neapel aber kann man noch anderes
entdecken. Heute beispielsweise sah ich Kinder - ich rede von einer Gruppe
achtjähriger Jungen-, die ein paar alte Obstkisten zusammengerückt hatten, um
ein paar Stühle und einen Tisch zu improvisieren, und dann auf der Piazza mit
so ungeheurer Leidenschaft Poker spielten, dass ich Angst bekam, einer von
ihnen könnte erschossen werden.
Giovanni und Dario, meine Tandem-Austausch-Zwillinge,
stammen aus Neapel. Ich kann es mir nicht vorstellen. Kann mir den
schüchternen, fleißigen, sympathischen Giovanni als kleinen Buben unter diesem
tja, Mob - und ich verwende dieses Wort nicht leichtherzig - einfach nicht vorstellen.
Aber er ist tatsächlich Neapolitaner. Vor unserer Abfahrt aus Rom nannte er
mir noch den Namen einer Pizzeria, die ich unbedingt ausprobieren müsse, weil
es dort angeblich die beste Pizza von ganz Neapel gibt. Angesichts der
Tatsache, dass die beste Pizza Italiens aus Neapel stammt und die beste Pizza
der Welt aus Italien, fand ich diese Aussicht wahnsinnig aufregend, denn es
bedeutet, dass es in dieser Pizzeria ich bin fast zu abergläubisch, es
auszusprechen, ... die beste Pizza der Welt gibt.
Giovanni nannte mir den Namen des Lokals mit solchem Nachdruck, dass ich fast
das Gefühl hatte, in einen Geheimbund eingeführt zu werden. Er drückte mir die
Adresse in die Hand und sagte in feierlichstem und vertraulichstem Ton: »Bitte
geh in diese Pizzeria und bestell die Pizza Margherita mit Extra-Mozzarella.
Solltest du es nicht tun, dann lüg mich hinterher bitte
an und sag mir, du wärst dort gewesen.«
So sind Sofie und ich in der Pizzeria Da Michele gelandet, und diese Teigfladen bringen uns um den Verstand. Ich bin
tatsächlich
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