Gilbert, Elizabeth
einziges Mal,
hatte ich diese Seite von ihr zu Gesicht bekommen. Nie hatte ich mir darüber
Gedanken gemacht, was sie sich vielleicht gewünscht, was sie vermisst und
worauf sie verzichtet hatte, weil ihr der Kampf darum angesichts der Umstände
nicht lohnenswert erschien. Als mir das klar wurde, spürte ich, wie meine
Weltsicht sich radikal veränderte.
Wenn sogar sie sich wünscht,
was ich mir wünsche, dann...?
Meine Mutter setzte die beispiellose Serie von Vertraulichkeiten
fort und sagte: »Du musst wissen, dass ich nicht mit der Vorstellung erzogen
wurde, mir stehe irgendetwas im Leben zu, Liebes. Denk daran - ich komme aus
einer anderen Zeit und aus einer anderen Welt als du.«
Ich schloss die Augen und sah meine Mutter, zehn Jahre
alt, auf der Farm ihrer Familie in Minnesota, wo sie schuftete wie eine
Bauernmagd, ihre kleinen Brüder aufzog, die Kleider ihrer älteren Schwester
auftrug und Zehn-Cent-Stücke sparte, um irgendwann einmal da herauszukommen
...
»Und du musst auch verstehen, wie sehr ich deinen Vater
liebe«, meinte sie abschließend.
Meine Mutter hat - wie wir alle - in ihrem Leben Entscheidungen
getroffen und sich mit ihnen abgefunden. Das sieht man. Sie ist nicht aus ihrem
Leben ausgestiegen. Sie hat es sich ihren wichtigsten Bedürfnissen entsprechend
eingerichtet. Die Gewinne, die ihr ihre Entscheidungen einbrachten, sind
beträchtlich: eine stabile Ehe mit einem Mann, den sie immer noch ihren besten
Freund nennt; eine Familie, zu der inzwischen auch schon Enkel gehören, die
ganz verrückt nach ihr sind; ein Vertrauen in die eigene Kraft. Vielleicht hat
sie einiges geopfert, und auch mein Vater hat Zugeständnisse gemacht - doch
wer von uns macht sie nicht?
Für mich aber lautet jetzt die Frage: Wie soll ich mich entscheiden?
Was steht mir meiner Meinung nach in diesem Leben zu? Wo kann ich
Zugeständnisse machen und wo nicht? Mir ein Leben ohne David vorzustellen war
so schwer für mich. Allein der Gedanke, nie wieder einen Ausflug mit meinem
Lieblingsreisegefährten zu machen, nie wieder mit heruntergekurbelten
Fenstern, Springsteen im Autoradio, einem unerschöpflichen Vorrat an Snacks und
Gesprächsstoff, unterwegs zu einem Ort am Meer, der uns am Ende des Highways
erwartet, am Straßenrand anzuhalten, war unerträglich. Wie aber kann ich
dieses Glück akzeptieren, wenn es stets mit so vielen Kehrseiten einhergeht:
mit niederschmetternder Einsamkeit, nagender Unsicherheit, heimtückischem
Groll und natürlich der unvermeidlichen Demontage meines Ichs? Ich kann nicht
mehr. Irgendetwas an meiner Freude in Neapel hat mich davon überzeugt, dass
ich das Glück nicht nur ohne David finden kann, sondern muss. Egal wie sehr ich
ihn liebe (und ich liebe ihn wirklich, ja, in törichtem Übermaß), ich muss mich
von diesem Menschen verabschieden. Und zwar so, dass dieser Abschied endgültig
ist.
Also schreibe ich ihm eine E-Mail.
Es ist November. Im Februar haben wir uns getrennt, seit
Juli haben wir keinen Kontakt mehr. Traurig, ohne einen echten Schlusspunkt zu
setzen, haben wir uns getrennt, mit einem sehnsüchtigen Vielleicht kokettierend
... Trotzdem habe ich ihn gebeten, sich während meiner Reise nicht bei mir zu
melden, da ich wusste, dass meine Gefühle für ihn zu stark waren, als dass ich
mich auf meine Reise hätte konzentrieren können.
Ich hoffe, schreibe ich ihm, es gehe ihm gut, um dann dasselbe
von mir zu berichten. Ich scherze ein wenig. Im Witzereißen waren wir immer
gut. Dann erkläre ich ihm, ich sei der Ansicht, dass wir diese Beziehung
endgültig beenden sollten. Es werde Zeit, sich einzugestehen, dass es niemals
klappen werde, dass es nie klappen sollte. Die
Mitteilung ist nicht allzu dramatisch. Wir hatten schon weiß Gott genug Dramen
erlebt. Ich fasse mich kurz. Eines aber muss ich noch loswerden. Mit
angehaltenem Atem tippe ich: »Selbstverständlich drücke ich dir, falls du dich
nach einer anderen Partnerin umsehen möchtest, beide Daumen.« Meine Hände
zittern. Ich verabschiede mich mit herzlichen Grüßen und versuche so heiter wie
möglich zu klingen.
Mir ist, als habe man mir einen Schlag versetzt.
In der darauf folgenden Nacht schlafe ich wenig, stelle
mir vor, wie er meine Mail liest. Am nächsten Tag laufe ich immer wieder zum
Internetcafe, um nachzusehen, ob er geantwortet hat. Ich versuche, den Teil
von mir zu ignorieren, der darauf brennt, von ihm zu hören: Komm zurück! Geh
nicht fort! Ich werde mich ändern! Ich versuche, das Mädchen in mir
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