Gilbert, Elizabeth
allen Veränderungen bewirkt, mit denen wir niemals gerechnet hätten.
Das Augustusmausoleum mahnt mich, nicht an obsoleten Vorstellungen festzuhalten,
Vorstellungen von dem, was ich bin, wofür ich stehe, oder bezüglich der Rolle,
die ich mir einst zudachte. Gestern war ich vielleicht ein herrliches Monument,
gewiss - morgen aber könnte ich schon ein Munitionsdepot sein. Sogar in der
Ewigen Stadt, gibt mir das Augustusmausoleum schweigend zu verstehen, muss man
stets auf einen plötzlichen Wandel gefasst sein.
26
Unmittelbar vor meiner Abreise aus New York hatte ich mir
bereits eine Kiste mit Büchern vorausgeschickt. Garantiert innerhalb von sechs
Tagen sollte die Kiste an meiner römischen Adresse eintreffen, aber ich
glaube, dass die italienische Post meine Anweisung als »sechsundvierzig Tage«
missverstanden hat, denn inzwischen sind zwei Monate vergangen, und von meiner
Kiste fehlt immer noch jede Spur. Meine italienischen Freunde meinen, ich solle
die Kiste abschreiben. Zwar könne sie noch eintreffen, vielleicht aber auch
nicht, doch lägen derartige Dinge nicht in meiner Hand.
»Könnte sie jemand gestohlen haben?«, frage ich Luca Spaghetti.
»Zum Beispiel ein Postangestellter?«
Er schlägt die Hände vors Gesicht. »Stell nicht solche Fragen«,
sagt er. »Damit machst du dich bloß verrückt.«
Eines Abends löst der rätselhafte Verbleib meiner verschwundenen
Kiste eine lange Diskussion zwischen mir, meiner amerikanischen Freundin Maria
und ihrem Mann Giulio aus. Maria findet, dass man sich in einer zivilisierten
Gesellschaft darauf verlassen können sollte, dass ein Dienstleistungsunternehmen
wie die Post unsere Briefe und Päckchen schnellstmöglich ausliefert, Giulio aber
sieht das anders. Er weist darauf hin, dass die Post keine Sache der Menschen
sei, sondern der Schicksalsgöttinnen, und dass die Auslieferung von Briefen und
Paketen daher nichts sei, was irgendjemand garantieren könne.
Mehrere Male gehe ich zur Post, um nach meiner Kiste zu
fragen - jedoch vergeblich. Die Postangestellte ist ganz und gar nicht
beglückt, ihr Telefonat mit ihrem Freund durch mein Erscheinen unterbrochen zu
sehen. Und mein Italienisch ist zwar - ehrlich! - besser geworden, versagt
jedoch in solchen Stresssituationen. Während ich mir Mühe gebe, in verständlichen
Worten über meine vermisste Bücherkiste zu sprechen, guckt die Frau mich nur
an, als würde ich Luftblasen absondern.
»Vielleicht ist sie nächste Woche hier?«, frage ich auf
Italienisch.
Sie zuckt die Achseln. »Magari.«
(Ein weiteres unübersetzbares Wort, das wohl irgendetwas
zwischen »hoffentlich« und »träumst wohl, Tusse« bedeutet.)
Ach, vielleicht ist es ja besser so. Ich kann mich nicht
mal erinnern, welche Bücher ich überhaupt eingepackt hatte. Bestimmt waren es
Sachen, die ich meinte, durcharbeiten zu müssen, um Italien wirklich zu
verstehen. Ich hatte diese Kiste mit allem möglichen Recherchematerial voll
gepackt, das zwar von gebührendem Eifer zeugte, mir aber jetzt, wo ich hier
bin, unwichtig erscheint. Ich glaube, ich habe sogar die ungekürzte Ausgabe von
Gibbons The History of the Decline and Fall of the Roman Empire in dieser
Kiste verstaut. Vielleicht bin ich ja glücklicher ohne Decline and
Fall. Will ich wirklich, wo doch das Leben so kurz ist, ein Neunzigstel
meiner verbleibenden Tage auf Erden mit der Lektüre von Edward Gibbon
verbringen?
27
Letzte Woche habe ich eine junge Australierin getroffen,
die zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Rucksack durch Europa reist. Ich
erklärte ihr, wie sie zum Bahnhof kommt. Sie wollte nach Slowenien, nur um sich
dort mal umzugucken. Als ich von ihren Plänen hörte, packte mich sofort eine
blödsinnige Eifersucht, und ich dachte: Ich will auch nach Slowenien!
Warum komme ich eigentlich nie dazu, irgendwohin zu reisen?
Also, dem Leser mag es ja vorkommen, als befände ich mich
bereits auf Reisen. Und sich nach dem Reisen zu sehnen, während man reist,
klingt irgendwie unersättlich. So ähnlich, als wünsche man sich, mit seinem
Lieblingsschauspieler zu schlafen, während man gerade mit seinem anderen
Lieblingsschauspieler schläft. Aber die Tatsache, dass diese junge Frau mich
nach dem Weg fragte (mich also für eine Römerin hielt), legt nahe, dass ich
mich hier in Rom nicht auf Reisen befinde, sondern zu Hause bin. Wie temporär
dieser Status auch sein mag, ich bin eine Einwohnerin Roms. Als ich der
Australierin begegnete, war ich nämlich auf dem
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