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Gilbert, Elizabeth

Gilbert, Elizabeth

Titel: Gilbert, Elizabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Love Pray Eat
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nicht
einmal ein Gedanke. Es war eine Handlung.
    Ich sprang aus dem Fenster.
    Genauer gesagt, ich kletterte nach draußen und hielt mich
mit verschwitzten Händen am Geländer fest. Während ich einen Moment lang im
Dunkeln über dem Erdboden baumelte, um mir die vernünftige Frage zu stellen:
»Warum springst du aus diesem Gebäude?« Die Antwort kam prompt: Ich muss zur
Gurugita. Dann löste ich meinen Griff und ließ mich rückwärts etwa
vier bis fünf Meter durchs Dunkel auf den Betongehsteig hinunterplumpsen, wobei
ich im Fallen etwas streifte, das mir das rechte Schienbein aufschlitzte - doch
das war mir egal. Ich rappelte mich auf und rannte, während mir der Puls in den
Ohren hämmerte, barfuß den ganzen Weg bis zum Tempel, fand einen Platz, öffnete
mein Gebetbuch im selben Moment, in dem der Chant begann, und fing an - während
mir fortwährend das Blut das Bein hinabrann -, die Gurugita zu singen.
    Erst nach einigen Versen kam ich wieder zu Atem und konnte
meinen normalen Morgengedanken fassen: Ich will nicht hier sein. Sofort
hörte ich Swamiji in Gelächter ausbrechen und sagen: So wie du
dich verhältst, willst du doch offensichtlich hier sein.
    Okay also, versetzte ich, du hast
gewonnen.
    Ich saß, sang, blutete und dachte, dass es vielleicht an
der Zeit war, meine Einstellung zu dieser spirituellen Übung zu revidieren.
Eigentlich soll die Gurugita eine Hymne
der reinen Liebe sein, irgendetwas aber hatte mich von wirklich aufrichtiger
Liebe abgehalten. Und als ich nun Vers um Vers chantete, merkte ich, dass ich
irgendetwas - oder - jemanden - finden musste, dem ich diese Hymne widmen
konnte, um diesen Punkt der reinen Liebe in mir zu finden. Beim zwanzigsten
Vers hatte ich ihn: Nick.
    Nick, mein Neffe, ist acht Jahre alt, ein bisschen mager
für sein Alter, beängstigend gescheit, sensibel und kompliziert. Schon Minuten
nach seiner Geburt war er der einzige unter den plärrenden Neugeborenen im
Kreißsaal, der nicht weinte, sondern mit weltklugen und besorgten Augen um
sich blickte, als habe er dies schon viele Male getan und wisse nicht so recht,
ob er sich darüber freuen solle, es abermals tun zu müssen. Für Nick wird das
Leben nie einfach sein, er ist jemand, der alles so intensiv hört und sieht und
empfindet und zuweilen so rasch von Gefühlen überwältigt wird, dass es uns
alle zermürbt. Ich empfinde eine so innige Liebe für diesen Jungen. Als ich den
Zeitunterschied zwischen Indien und Pennsylvania überschlug, stellte ich fest,
dass es für Nick Zeit war, ins Bett zu gehen. Also sang ich die Gurugita für meinen
Neffen, um ihm beim Einschlafen zu helfen. Manchmal fällt ihm das nämlich
schwer, weil er einfach nicht abschalten kann. Also widmete ich jedes Wort
dieser Hymne Nick. Packte alles in sie hinein, was ich ihn über das Leben
lehren wollte. Versuchte, ihm mit jeder Zeile Zuversicht einzuflößen, erklärte
ihm, dass die Welt zwar manchmal hart und ungerecht sei, er aber keine Angst zu
haben brauche, denn er werde sehr geliebt. Er ist umgeben von Menschen, die
alles tun würden, um ihm zu helfen. Und nicht nur das: In seinem Innersten
verborgen besitzt auch er Weisheit und Geduld - auch wenn er sich dieser
Eigenschaften im Moment noch nicht bewusst ist -, so dass er die Prüfungen des
Lebens bestehen wird. Er ist ein Geschenk Gottes an uns alle.
    Bald merkte ich, dass mir Tränen über die Wangen liefen.
Doch noch ehe ich sie abwischen konnte, war die Gurugita schon zu
Ende. Eineinhalb Stunden waren vergangen. Und mir war, als wären es zehn
Minuten gewesen. Ich begriff, was geschehen war: Der kleine Nick hatte mich die Gurugita durchstehen lassen. Die kleine Seele, der ich hatte
helfen wollen, hatte in Wirklichkeit mir geholfen.
    Ich ging im Tempel nach vorn, verbeugte mich vor meinem
Gott, vor der revolutionären Macht der Liebe, vor mir selbst, vor meinem Guru und
meinem Neffen - und begriff einen Moment lang auf einer molekularen (nicht
einer intellektuellen) Ebene, dass es zwischen all diesen Wörtern, all diesen
Ideen, all diesen Menschen keinerlei Unterschied gab. Dann schlich ich in die
Meditationshöhle, ließ das Frühstück ausfallen und blieb dort fast zwei Stunden
lang ruhig sitzen.
    Dass ich die Gurugita nie wieder
versäumte, versteht sich von selbst; sie entwickelte sich zur heiligsten meiner
Ashram-Übungen. Und natürlich ließ es sich Richard nicht nehmen, mich wegen
meines Sprungs aus dem Fenster zu foppen: »Wir sehen uns morgen bei der Geet, Groceries.
Und,

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