Gilbert, Elizabeth
hey - nimm diesmal die Treppe, okay?« Und natürlich rief mich in der
darauf folgenden Woche meine Schwester an, um mir zu erzählen, dass Nick - aus
unerfindlichen Gründen - plötzlich keine Einschlafprobleme mehr habe. Und naturgemäß
las ich ein paar Tage später in der Bibliothek ein Buch über den indischen
Heiligen Sri Ramakrishna und stieß dabei auf eine Geschichte über eine
Sucherin, die einmal den großen Meister besuchte und ihm beichtete, dass sie
fürchte, keine gute Schülerin zu sein und Gott nicht genug zu lieben. »Gibt es
denn nichts, was du liebst?«, fragte der Heilige die Frau, die ihm dann
gestand, dass sie ihren kleinen Neffen mehr liebe als alles auf der Welt.
»Nun«, erwiderte ihr der Heilige, »so ist er dein Krishna, dein Geliebter.
Indem du diesem Neffen dienst, dienst du Gott.«
Doch das alles ist irrelevant. Das wirklich Erstaunliche
passierte an dem Tag, als ich aus dem Fenster sprang. Am Nachmittag begegnete
ich nämlich Delia, meiner Zimmergenossin. Ich erzählte ihr, dass sie mich in
unserem Zimmer eingesperrt habe. Sie war völlig entgeistert. »Ich begreife
nicht, warum ich das getan habe«, sagte sie. »Vor allem, weil ich den ganzen
Morgen über an dich gedacht habe. Letzte Nacht hab ich so lebhaft von dir
geträumt. Den ganzen Tag musste ich an diesen Traum denken.«
»Erzähl«, sagte ich und wartete.
»Ich habe geträumt, dass du in Flammen standest«, sagte Delia,
»und dass auch dein Bett brannte. Ich bin aufgesprungen und wollte dir zu
Hilfe eilen, aber als ich bei deinem Bett ankam, war nur noch weiße Asche von
dir übrig.«
55
Und da beschloss ich, dass ich im Ashram bleiben musste.
Was ursprünglich überhaupt nicht mein Plan gewesen war. Mein anfänglicher Plan
sah einen Aufenthalt von lediglich sechs Wochen vor, ein bisschen
transzendentale Erfahrung und danach Reisen durch ganz Indien und . .., ahm ..., Suche
nach Gott. Ich hatte Karten, Reiseführer, Wanderstiefel dabei, alles, was man
braucht! Ich hatte die Besichtigung bestimmter Tempel und Moscheen und
Begegnungen mit heiligen Männern eingeplant. Es gibt hier so viel zu sehen und
zu erleben. Ich möchte auf Elefanten und Kamelen reiten. Und es würde mich
niederschmettern, wenn ich mir den Ganges entgehen lassen müsste, die Wüste
Tharr in Rajasthan, die verrückten Kinos von Mumbai, den Himalaja, die alten
Teeplantagen, die Rikschas in Kalkutta, die Rennen gegeneinander veranstalten
wie die Streitwagen in Ben Hur. Ja, im
März wollte ich sogar in Daramsala den Dalai-Lama treffen. In der Hoffnung,
dass er mich etwas über Gott lehren könne.
Aber hier zu bleiben, mich in einem kleinen Ashram am Ende
der Welt zu vergraben - nein, das hatte ich nicht vorgehabt.
Andererseits behaupten die Zen-Meister ja immer, dass man
sein Spiegelbild in fließendem Wasser nicht erkennen könne, nur in stehendem.
Irgendetwas sagte mir also, dass es spirituell fahrlässig wäre, jetzt
wegzulaufen, jetzt, wo doch hier an diesem kleinen abgeschiedenen Ort so viel
passierte, einem Ort, an dem jede Minute des Tages geregelt ist, um
Selbsterforschung und religiöse Übungen zu ermöglichen. War es wirklich nötig,
einen Zug nach dem anderen zu besteigen, mir Darmparasiten einzufangen und mit
Rucksacktouristen herumzuhängen? Konnte ich das nicht irgendwann nachholen?
Konnte ich den Dalai-Lama nicht ein andermal treffen? (Und sollte er in Gottes
Namen sterben, so suchen sie doch einfach einen neuen, oder etwa nicht?) Habe
ich nicht schon einen Pass, der aussieht wie ein tätowiertes Zirkusweib?
Bringt mich das Reisen der Gottesbegegnung wirklich so viel näher?
Ich sollte bleiben. Nicht wahr? Oder sollte ich vielleicht
doch auf Reisen gehen? Ich wusste es nicht. Einen Tag lang überlegte ich hin
und her. Und wie üblich hatte Richard aus Texas das letzte Wort.
»Bleib, wo du bist, Groceries«, sagte er. »Vergiss deine
Besichtigungstour - dafür hast du noch den Rest deines Lebens Zeit. Du bist
auf einer spirituellen Reise, Baby. Büchs jetzt nicht aus, denn dann nutzt du
dein Potenzial nur zur Hälfte. Du hast eine persönliche Einladung von Gott -
willst du die wirklich ablehnen?«
»Aber was ist mit all den herrlichen Dingen, die es in Indien
zu sehen gibt?«, fragte ich. »Es ist doch irgendwie schade, um die halbe Welt
zu reisen, nur um dann die ganze Zeit in einem kleinen Ashram zuzubringen, oder
nicht?«
»Groceries, Süße, nun hör mal auf deinen Freund Richard.
Geh die nächsten drei Monate einfach hin
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