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Gilbert, Elizabeth

Gilbert, Elizabeth

Titel: Gilbert, Elizabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Love Pray Eat
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und pflanz deinen lilienweißen Hintern
Tag für Tag in diese Meditationshöhle - und ich verspreche dir eins: Du wirst
Sachen sehen, die sind so verdammt schön, dass du Lust kriegst, den Tadsch Mahal
mit Steinen zu bewerfen.«
     
    56
     
    Heute Morgen beim Meditieren habe ich mich bei folgenden
Gedanken ertappt:
    Ich überlegte mir, wo ich leben möchte, wenn dieses Reisejahr
einmal zu Ende ist. Ich will nicht nach New York zurückziehen, nur weil mir
nichts anderes einfällt. Vielleicht lieber in eine andere Stadt. Austin soll
hübsch sein. Und Chicago hat all diese großartige Architektur. Doch die Winter
dort sind fürchterlich. Oder aber ich gehe ins Ausland. Über Sydney habe ich
Gutes gehört... An einem Ort, der billiger ist als New York, könnte ich mir
vielleicht ein zusätzliches Zimmer leisten und hätte dann meinen eigenen
Meditationsraum! Das wäre toll. Ich könnte ihn mit Goldfarbe streichen. Oder
vielleicht in einem kräftigen Blau. Nein, gold, nein, blau ...
    Als ich mir dieser Gedankenspielereien schließlich bewusst
wurde, war ich bestürzt. Nun bist du hier in Indien, dachte
ich, in einem Ashram, an einer der heiligsten Pilgerstätten
der Welt, in einer Meditationshöhle. Und statt mit Gott Zwiesprache zu halten,
überlegst du, wo du in einem Jahr - in einer Wohnung, die es noch gar nicht
gibt, in einer Stadt, über die noch gar nicht entschieden ist - meditieren
wirst! Wie wär's denn, wenn du hier und jetzt, hier, wo du gerade bist,
meditieren würdest, statt Farbmuster für die Wände eines Meditationsraums
auszusuchen, der nur in deiner Fantasie existiert?
    Entschlossen konzentrierte ich mich wieder auf das Mantra.
    Trotzdem, dachte ich im nächsten Moment, ein
goldenes Meditationszimmer wäre toll.
    Ich öffnete die Augen und seufzte. Kann ich's denn wirklich
nicht lassen?
    An diesem Abend probierte ich etwas Neues aus. Im Ashram hatte
ich kurz zuvor eine Frau getroffen, die Vipassana-Meditation praktizierte.
Vipassana ist eine ultraorthodoxe, aufs Wesentliche reduzierte und äußerst
intensive buddhistische Meditationstechnik. Im Grunde beinhaltet sie nur Sitzen. Ein
Vipassana-Einführungskurs dauert zehn Tage. An diesen zehn Tagen sitzen und
schweigen die Teilnehmer jeweils zehn Stunden lang, in Phasen von zwei bis
drei Stunden. Es ist die Extremsport-Variante der Suche nach Transzendenz. Ein
Vipassana-Meister gibt einem nicht mal ein Mantra; Mantras gelten quasi als
Mogelei. Vipassana-Meditation ist die Praxis des reinen Betrachtern, bei der
man den eigenen Geist beobachtet, seine gesammelte Aufmerksamkeit auf seine
Gedankenmuster richtet, sich aber durch nichts aus seiner Sitzhaltung reißen
lässt.
    Das ist auch körperlich strapaziös. Sobald man die Sitzposition
einmal eingenommen hat, darf man sich nicht mehr rühren, egal, wie unbehaglich
man sich fühlt. Man sitzt nur da und sagt sich: Es gibt überhaupt keinen Grund,
weshalb ich mich in den nächsten zwei Stunden bewegen sollte. Fühlt man sich
unwohl, so soll man eben über dieses Gefühl meditieren und die Wirkung
beobachten, die der körperliche Schmerz auf einen ausübt. In unserem normalen
Leben hüpfen wir ständig herum, um das Unbehagen abzuschütteln - egal, ob
körperlicher, emotionaler oder psychischer Natur -, um der leidvollen und
ärgerlichen Wirklichkeit aus dem Weg zu gehen. Die Vipassana-Meditation lehrt,
dass Leiden und Ärger in diesem Leben unvermeidlich sind, dass man jedoch, wenn
man lange genug stillhält, beizeiten die Wahrheit erfahren wird, dass
letztendlich alles vergeht (das Unangenehme ebenso wie das Schöne).
    »Die Welt ist mit Tod und Verfall behaftet. Deshalb trauern
die Weisen - die darum wissen - nicht«, verkündet ein alter buddhistischer
Lehrsatz. Mit anderen Worten: Gewöhn dich dran.
    Ich glaube nicht, dass Vipassana unbedingt mein Weg ist.
Vipassana ist viel zu asketisch für meine Vorstellung von Religion, die in der
Regel um Transzendenz, Barmherzigkeit, Liebe, Schmetterlinge, Seligkeit und
einen freundlichen Gott kreist (was mein Freund Darcey als
»Kleine-Mädchen-Theologie« bezeichnet). Im Vipassana ist nicht einmal von
»Gott« die Rede, da der Begriff Gott von
einigen Buddhisten als letztes Objekt der Abhängigkeit betrachtet wird, als
letzte Kuscheldecke, als Letztes, was man auf dem Pfad zur absoluten
Losgelöstheit aufgeben muss. Inzwischen bereitet mir das Wort »Losgelöstheit«
selbst schon Probleme, da ich viele Neulinge unter den spirituell Suchenden
getroffen habe, die

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