Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
Hand fuhr er sich einmal quer über die Kehle.
»Ich dachte, Sie stehen auf Schmerz.«
Sein finsteres Lächeln kündete von wilden Lastern, die herrlich schmerzen würden. »Aber Sie sind nicht geblieben, um zu spielen.«
Argwöhnisch schnüffelte sie. Kein Duft. Er war einfach nur er selbst. Und wenngleich er wunderschön war, verlor sie nicht den Verstand vor Lust. Vielleicht reagierte sie auf seine Berührungen, aber welche Frau würde das nicht. »Zum letzten Mal, wo ist…?« Sie folgte seiner erhobenen Hand bis zu einer schmalen Tür. »Danke.«
Drinnen versuchte sie angestrengt ihren »Schutzschild« auszuprobieren, der möglicherweise nur ein Hirngespinst war. Auf keinen Fall wollte sie in diesem Moment Raphael in ihrem Kopf wissen. Nach zehn Minuten war sie mit allem fertig, hatte sich das Gesicht gewaschen, die Zähne mit einer der Einwegzahnbürsten, die sie unter dem Waschbecken gefunden hatte, geputzt und sich mit einer hübschen kleinen Wegwerfbürste die Haare gekämmt. In der Packung war sogar ein weißer Haargummi gewesen, mit dem sie die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenfassen konnte, Gott weiß, wann sie ihre eigenen Haargummis verloren hatte.
Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, dass sie ganz passabel aussah. Man konnte die feinen Schnitte im Gesicht kaum erkennen, und wenn auch ihre Handflächen noch etwas empfindlich waren, würden sie sie kaum in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. Was ihre Klamotten anging– das verblichene grüne T-Shirt sah ganz gut aus, ihre schwarzen Cargohosen waren nicht allzu verknittert. In diesen Sachen ließ sich genauso gut sterben wie in irgendwelchen anderen. Nicht dass sie vorhatte, es dem Erzengel leicht zu machen. Mit diesem Gedanken im Kopf nahm sie schnell einen der Einwegrasierer auseinander, um an die Klinge zu kommen.
»Mist!«
»Haben Sie nach Rasierklingen gesucht, Elena?«, drang Dmitris Stimme von draußen ein. »Ihre Meinung über meinen IQ verletzt mich zutiefst.«
Sie feuerte das Plastikding in den Müll. Irgendwie war es dem Vampir gelungen, die Klinge zu entfernen und den Rasierer dabei unversehrt zu lassen. »Sehr witzig.« Sie stieß die Tür auf und kam heraus.
Dmitri stand am anderen Ende des Zimmers und hatte die Hand schon auf dem Knauf. »Raphael wünscht Sie zu sehen.« Alle Anzeichen von Freundlichkeit waren auf einmal verschwunden.
»Ich bin bereit.«
Das schien ihn wiederum zu amüsieren. »Tatsächlich?«
»Kann ich nicht wenigstens ein Messer bekommen?«, versuchte sie zu feilschen. »Damit es ein fairer Kampf wird?«
Er öffnete die Tür. »Wenn es darum geht, dann wird es keinen Kampf geben. Aus unerfindlichen Gründen hat Raphael vor, Sie nicht zu töten.«
Genau das hatte Elena befürchtet. »Wohin gehen wir?«
»Auf das Dach.«
Elena versuchte auf dem Weg zum Fahrstuhl und auch beim Hochfahren ruhig zu bleiben. Es war unmöglich, nicht an das letzte Mal zu denken, als sie oben auf dem Dach gewesen war. Ihre Hand krampfte sich zusammen, als sie sich in Erinnerung rief, wie unbarmherzig ihr Raphael seine Macht gezeigt hatte. Warum, zum Teufel, vergaß sie immer wieder seine wahre Natur?
Selbst hierbei war sie hochkonzentriert, dachte nur »verschlossene« Gedanken.
Als sich die Türen öffneten, tauchte der Glaskäfig auf… die Erinnerung an das letzte Mal traf sie mit voller Wucht. Ein gedeckter Tisch mit weißem Tischtuch, Croissants, Pampelmusen, Saft und Kaffee stand in einsamer Pracht auf dem Dach. Nur dass es diesmal Raphael war, der mit dem Rücken zu ihr am äußersten Rand stand.
Dmitri war im Nu vergessen, sie stieg eilends aus dem Fahrstuhl. Hinter ihr schlossen sich die Türen wieder, doch sie nahm das Verschwinden des Fahrstuhls– und Dmitris– gar nicht wahr, ihre ganze Aufmerksamkeit galt den Flügeln des Erzengels, die sie zuletzt blutend auf ihrem Teppich liegen gesehen hatte. »Raphael«, sagte sie, sobald sie auf das Dach hinausgetreten war.
Er drehte sich leicht zu ihr um, und sie verstand das als Zeichen, näher zu kommen– sie musste mit eigenen Augen sehen, dass die Wunde verheilt war. Aus der Entfernung wirkten seine Flügel makellos, und erst als sie näher kam, sah sie die verblüffende Veränderung. »Als hätte der Schuss ein Muster ergeben.«
Er hob den Flügel empor, damit sie das Muster ganz sehen konnte. »Ich dachte, es sei nur der untere Teil davon betroffen, aber es ist durchgängig.«
Wie gelähmt stand sie da. Es war eine Narbe, doch die absolut unglaublichste
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