Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
monatelang war er unfähig gewesen, sich von der Stelle zu bewegen. Nicht einmal die Augen hatte er heben können, um sie davonfliegen zu sehen. Stattdessen war das Letzte, was er von seiner Mutter sah, ihre nackten Füße, die zart das jungfräulich grüne Gras berührten und eine Spur von Engelsstaub zurückließen.
»Mutter«, versuchte er zu rufen.
»Pst, mein Liebling. Pst.« Dann blies ihm ein Windstoß Staub ins Auge.
Als er das nächste Mal erwachte, war Caliane verschwunden.
Und er blickte in das Gesicht eines Vampirs.
Blutgeborener
Er trank.
Seine dürren Knochen erholten sich, füllten sich mit Leben.
Aber er brauchte mehr.
Sehr viel mehr.
Das war die Ekstase, die die anderen von ihm fernhalten wollten, während sie selbst machttrunken waren. Aber nun hatte ihre Stunde geschlagen. Als er ihnen brüllend und mit blutigen Eckzähnen den Kampf ansagte, zerbarsten um ihn herum und weit darüber hinaus alle Scheiben.
Die Zeit war reif.
21
Erleichterung stand Dmitri ins Gesicht geschrieben. »Sire?«
»Wie spät ist es?«, fragte er mit fester Stimme. Anshara hatte seine Wirkung getan. Doch er würde den Preis dafür bezahlen müssen, schon bald.
»Der Morgen graut«, antwortete Dmitri in den Worten vergangener Zeiten. »Die ersten Sonnenstrahlen berühren den Horizont.«
Raphael stieg aus dem Bett und streckte seine Flügel aus. »Was macht die Jägerin?«
»Sitzt gefesselt in einem Zimmer.«
Der Flügel war wieder wie zuvor, mit einer Ausnahme. Raphael betrachtete die Zeichnung auf der Innenseite. An der Stelle, an der Elenas Kugel ihn durchschlagen hatte, wurde das gleichmäßige Goldmuster durchbrochen. Jetzt zeigte sich auf dem unteren Teil seines Flügels ein einzigartiges goldenes Muster auf weißem Untergrund– eine von einem Punkt ausgehende Explosion. Raphael lächelte. Also würde er für immer das Zeichen von Elenas Gewaltausbruch tragen.
»Sire?« In Dmitris Stimme klang Verwunderung mit, als er das Lächeln bemerkte.
Raphael starrte weiter unbeirrt auf seinen Flügel mit dem Zeichen der Stille. Es sollte ihm eine Mahnung sein. »Hast du ihr wehgetan, Dmitri?« Mit einem Blick sah er dessen zerzauste Haare und zerknitterte Kleidung.
»Nein.« Auf den Lippen des Vampirs lag ein barbarisches Lächeln.
»Ich dachte, dieses Vergnügen gebührt allein Ihnen.«
Raphael berührte Elenas Geist. Sie schlief, erschöpft von der Nacht, in der sie versucht hatte, sich von den Fesseln zu befreien. »Das ist ein Kampf zwischen mir und der Jägerin. Niemand wird sich da einmischen. Kümmere dich darum, dass sich die anderen auch daran halten.«
Dmitri konnte seine Verwunderung nicht verbergen. »Sie werden sie nicht bestrafen? Warum nicht?«
Raphael war niemandem Rechenschaft schuldig, doch Dmitri war schon so lange bei ihm, länger als alle anderen. »Weil ich angefangen habe. Und weil sie sterblich ist.«
So ganz ließ sich der Vampir nicht überzeugen. »Mir gefällt Elena, aber wenn sie um eine Bestrafung herumkommt, wird man Ihre Macht infrage stellen.«
»Sorge dafür, dass die anderen einsehen, dass Elena in unserem Plan eine sehr wichtige Rolle einnimmt. Und außerdem, dass sich jeder, der meine Autorität infrage stellt, schon sehr bald wünschen wird, ich hätte ihn so glimpflich davonkommen lassen wie Germaine.«
Dmitri wurde bleich. »Darf ich noch etwas fragen?«
Er wartete Raphaels stillschweigende Einwilligung ab.
»Warum sind Sie so schwer verletzt worden?« Dmitri zog die Pistole hinter seinem Rücken hervor. »Ich habe die Patronen untersucht, die sie verwendet hat– eigentlich hätten sie bei Ihnen nur eine geringfügige Verletzung verursachen dürfen, ihr höchstens einen zehnminütigen Vorsprung verschaffen können.«
Dann wird sie dich töten. Sie wird dich zu einem Sterblichen machen.
»Ich habe diese Verletzung gebraucht«, antwortete Raphael vieldeutig. »Damit hast du deine Antwort.«
Dmitri sah ihn enttäuscht an. »Kann das wieder passieren?«
»Ich werde dafür sorgen, dass es sich nicht wiederholt.« Ihm tat der Anführer seiner Sieben leid. »Mach dir keine Sorgen, Dmitri– du wirst nicht zusehen müssen, wie die Stadt unter einem neuen Erzengel erzittert. Nicht für die nächste Ewigkeit jedenfalls.«
»Ich habe miterlebt, zu was sie imstande sind.« Vor den Augen des Vampirs zogen die Erinnerungen vorbei. »Hundert Jahre lang habe ich unter Nehas barmherziger Herrschaft gedient. Warum haben Sie mir damals nicht Einhalt geboten, als ich Ihre
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