Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
Von Anfang an hatte sie sich ermahnt, vorsichtig zu sein und immer daran zu denken, dass sie für Raphael nur ein billiges Wegwerfspielzeug war. Offenbar störte das ihre Hormone weniger.
Der Erzengel hatte ein Feuer in ihr entfacht.
Das Schlimme daran war, dass sich ihre Faszination für ihn nicht allein mit leidenschaftlichem Verlangen erklären ließ. Dafür war Raphael ein viel zu interessanter Mann. Aber in der vergangenen Nacht– in dieser Nacht war er nicht er selbst gewesen. Oder, flüsterte eine Stimme in ihr, er war es doch– vielleicht war dieser Fremde, auf den sie heute geschossen hatte, der wahre Raphael… der Erzengel von New York, ein Wesen, das andere so quälen konnte, bis sie nur noch ein wimmerndes, zerstörtes Stück monströser Folterkünste waren.
Raphael hatte die Augen geschlossen, aber er schlief nicht richtig. Er lag in einem halbwachen Koma, ein Zustand, in den sich Vampire und Menschen nicht versetzen konnten. Bei den Engeln hieß dieser Zustand Anshara; um ihn zu erreichen, musste man mindestens ein halbes Jahrtausend gelebt haben. Anshara ermöglichte Verstandesaktivität bei gleichzeitiger Tiefenentspannung. Jetzt war sein bewusster Teil damit beschäftigt, die Wunde zu heilen, die Elena ihm mit ihrer kleinen Pistole zugefügt hatte, während der Rest von ihm schlief. Ein nützlicher Zustand. Aber freiwillig hätte er ihn nicht herbeigeführt.
In Anshara fiel ein Engel nur, wenn er schwer verwundet war. In den letzten achthundert Jahren seiner Existenz war das bei Raphael kaum vorgekommen. Als er noch jung und unerfahren gewesen war, hatte er sich ein paarmal selbst verletzt– oder war verletzt worden.
Bilder von einem Tanz im Himmel, bevor sich seine Flügel verhedderten und er abstürzte, mit der Gewissheit, dass sein Blut den Wiesenboden rot färben würde.
Uralte Erinnerungen. An den Jungen, der er einst gewesen war.
Gebrochene Arme, gebrochene Beine, Blut, das aus einem zertrümmerten Mund floss.
Und an sie. Wie sie gurrend über ihm stand. »Schh, mein Liebling. Schh.«
Blanke Angst packte ihn, das Herz wurde ihm schwer, denn damals war er ihr schutzlos ausgeliefert gewesen… seiner Mutter, seinem größten Albtraum.
Mit ihren schwarzen Haaren und blauen Augen war sie sein weibliches Ebenbild. Doch zu der Zeit war sie schon alt gewesen, sehr alt, zwar nicht äußerlich, aber innerlich, an Geist und Seele. Und im Gegensatz zu Lijuan hatte sie sich nicht weiterentwickelt. Sie hatte sich… zurückentwickelt.
Jetzt sah er konzentriert seinem Flügel zu, dessen Wunden sich langsam wieder schlossen, doch der Anblick reichte nicht aus, um die Erinnerungen von ihm fernzuhalten. In Anshara kamen längst vergangene Dinge wieder zum Vorschein, kein Sterblicher wäre je imstande, seine Seele so zu durchdringen. Hier waren Erinnerungen von hundert Menschenleben gesammelt. Er war alt, so alt… aber nicht uralt. Die Erinnerungen waren nicht nur seine eigenen. Manche gehörten seinem Geschlecht, hier war der geheime Aufbewahrungsort all ihres Wissens, verborgen im Geist ihrer Kinder.
Jetzt kamen Calianes Erinnerungen an die Oberfläche.
Und er blickte aus der Hocke auf seinen blutenden, zerschellten Körper hinunter, beobachtete, wie ihre– gleichzeitig seine eigene– Hand ihm das Haar aus der Stirn strich. »Es tut jetzt weh, aber es musste sein.«
Der Junge am Boden konnte nicht sprechen, er ertrank in seinem Blut.
»Du wirst nicht sterben, Raphael. Du kannst gar nicht sterben. Du bist unsterblich.« Und sie beugte sich über ihn und hauchte einen Kuss auf die zerschmetterte Wange des Jungen. »Du bist der Sohn zweier Erzengel.«
In den Augen des Kindes, die wie durch ein Wunder unverletzt geblieben waren, stand die Verletztheit über den Verrat. Sein Vater war tot. Unsterbliche konnten sehr wohl sterben.
Trauer erfüllte Caliane. »Er musste sterben, Schätzchen. Sonst hätte es die Hölle auf Erden gegeben.«
Die Augen des Jungen verdunkelten sich, blickten vorwurfsvoll. Caliane seufzte, lächelte schließlich. »Und ich ebenfalls– deshalb bist du gekommen, um mich zu töten, nicht wahr?« Vergnügtes Lachen folgte ihren Worten. »Du kannst mich nicht töten, mein süßer Raphael. Nur ein Engel aus dem Kader der Zehn kann einen Erzengel töten. Und sie werden mich niemals finden.«
Schockartig fiel er wieder in seine eigenen Erinnerungen zurück. Denn das waren seine letzten Eindrücke von Caliane– er hatte sie empfangen, während er schwer verletzt dalag,
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