Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
unter ihnen dahinfloss, sich durch die mit jedem Jahrzehnt tiefer gewordenen Felsspalten schlängelte. »Hannah weiß alles«, sagte er schließlich.
»Warum steht sie dann nicht hinter uns?«
»Hannah weiß viele der Dinge, weil sie meine Frau ist. Sie hat kein Bedürfnis, in die Tätigkeiten des Kaders mit hineingezogen zu werden.« Er zögerte. »Du kannst das nicht verstehen, weil deine Jägerin von Anfang an in den Kader involviert war.«
»Wie kann jemand mit Hannahs Fähigkeiten« – und sie hatte ordentlich an Macht gewonnen, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte – »damit zufrieden sein, lediglich eine Statistenrolle zu spielen?«
»Hannah hat keinen Sinn für Politik.« Elias drehte sich zu Raphael um, in seinem Gesicht spiegelte sich wilde Entschlossenheit. »Keinen Sinn für Engel, die es wagen, meinen Namen in den Schmutz zu ziehen.«
»Das zeugt von einer Arroganz, die zu Unaufmerksamkeit und Fehlern führen kann«, antwortete Raphael und wiederholte damit etwas, das Elena nach jenem spannungsvollen Moment zu ihm gesagt hatte, als sie ihn so fest an sich gedrückt hatte, als wollte sie ihn buchstäblich vor dem Fall in den Abgrund bewahren. »Er sehnt sich nach Ruhm. Von daher sollen ihn alle kennen.«
»Ich versteh ja deine Wut, Raphael« – auch in Elias brannte die Flamme des Zorns – »doch wir dürfen uns dadurch nicht von unserem eigentlichen Problem ablenken lassen.«
»Du hast Neuigkeiten.«
Es war dem anderen Erzengel anzusehen, war seiner Stimme anzuhören.
Elias nickte. »Es geht das Gerücht, dass Lijuan ihre Wiedergeborenen auf dem Ball präsentieren will.«
Das hatte Raphael befürchtet. In Jasons letztem Bericht, den er abgeliefert hatte, nachdem Lijuans Wiedergeborene ihn in die Enge getrieben und Teile seines Gesichts zerfetzt hatten, hatte es geheißen, die Armee der erweckten Toten würde von Tag zu Tag stärker. »Wir müssen uns gegen die Folgen wappnen, wenn das Ausmaß von Lijuans Taten an die Öffentlichkeit dringt.«
»Die Welt wird erzittern«, sagte Elias, sanft erklang seine Stimme aus der Dämmerung. »Und sie werden uns noch ein klein wenig mehr fürchten.«
»Das muss nicht unbedingt schlecht sein.« Die Angst hielt Sterbliche davon ab, dumme und unüberlegte Dinge zu tun, erinnerte sie daran, dass ein Unsterblicher aus jeder Schlacht als Sieger hervorgehen würde.
Aristokratisch hob sich Elias’ Profil gegen die orangerote Glut der untergehenden Sonne ab, sein Haar leuchtete golden. »Meinst du, das trifft auch in diesem Fall zu?«
»Bei den Sterblichen weiß man nie so genau – vielleicht brandmarken sie Lijuan als Monster, vielleicht aber verehren sie sie auch wie eine Heilige.«
Elias blickte an Raphael vorbei Hannah an, die jetzt auf den Balkon getreten war, um zu fragen, ob noch jemand Wein wolle. »Raphael?«
Raphael schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank, Hannah!«
»Bitte, gern geschehen.«
»Manchmal befürchte ich«, sagte Elias, nachdem seine Gefährtin verschwunden war, »dass die Richtung der Entwicklung von Lijuans Fähigkeiten etwas ist, das uns allen eines Tages bevorsteht.«
»Du weißt genauso gut wie ich, dass unsere Fähigkeiten eng an unser Wesen gebunden sind.« Raphael hatte seine eigene unverhoffte Gabe innerlich immer noch nicht ganz verarbeitet – woher war sie gekommen, welchen Ursprung hatte sie, welche Tat lag ihr zugrunde? »Und du hast auch nicht jeder Familie im Dorf ihren Erstgeborenen weggenommen, nur um deine Macht zu demonstrieren.«
Elias war sichtlich schockiert. »Das habe ich überhaupt nicht gewusst.«
»Lijuan war ja auch schon uralt, als du geboren wurdest.« Und Elias war immerhin über dreitausend Jahre älter als Raphael. »Vieles von dem, was sie getan hat, ist im Nebel der Zeit verschwunden.«
»Woher weißt du es denn?«
Raphael sah den Engel nur schweigend an.
Nach einer Weile nickte Elias. »Es spricht nicht gerade für unsere Intelligenz, dass wir nichts davon wissen. Was hat sie mit den geraubten Kindern getan?«
»Offenbar hat sie einige als ihre Haustiere gehalten – sie so lange am Leben gelassen, wie es ihr gefiel. Andere hat sie an ihre Vampire verfüttert.«
»Das glaube ich einfach nicht«, sagte Elias. »Kindern darf nichts geschehen. Das ist unser oberstes Gesetz.«
Engelsgeburten waren selten, sehr selten. Jedes Kind war ein außergewöhnliches Geschenk, aber – »Manche von uns glauben, nur die Kinder von Engeln zählen.«
Weiß traten die Knochen unter Elias’
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