Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
erwartet hatte, aber sie hatte auch noch etwas anderes aus seinen Worten herausgehört. »Dmitri lässt sie weiterhin überwachen, oder etwa nicht?«
»Urams Gift hat ihren Körper grundlegend verändert – wir müssen herausfinden, was es bei ihr bewirkt.«
Auch ohne groß nachzufragen, begriff Elena sehr wohl, dass Dmitri nicht zögern würde, Holly die Kehle aufzuschlitzen, falls sie sich als Urams Schöpfung erweisen sollte – Urams Bosheit durfte sich nicht ausbreiten. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, sagte sie und hoffte, Holly Chang würde ihrem Angreifer notfalls ins Gesicht spucken und ihm entkommen. »Was hast du mit Michaela gemacht?«
»Ich habe sie an einen Ort gebracht, wo alle Welt sie sehen kann. Dein Dolch steckt ihr noch im Auge, auch wenn sich die Wunde bereits geschlossen hat.«
»Was heißt das?«
»Das Herausziehen des Dolches und die abermalige Heilung der Wunde werden für Michaela sehr schmerzhaft sein.« Raphael hatte offenbar nicht das geringste Mitleid mit ihr. »Diese Schmerzen wollten Noels Angreifer ihm auch zufügen, als sie die Glasscherben in seinen Körper bohrten.«
Sie wusste, dass Raphael absichtlich eine Verbindung zwischen Noels abscheulichen Misshandlungen und seinen eigenen Taten herstellte. Es sollte daran erinnern, wer er war und zu was er imstande war. Was erwartete er von ihr? Etwa, dass sie weglief? Da kannte er seine Jägerin aber schlecht. »Du hast noch etwas getan.«
Du bildest dir also ein, mich zu kennen, Gildenjägerin.
In diesem Moment klang er ganz so wie der Erzengel, den sie bei ihrem ersten Treffen kennengelernt hatte, der sie mit erbarmungsloser Härte gezwungen hatte, ihre Hand um eine Messerklinge zu schließen. »Zumindest kenne ich dich gut genug, um zu wissen, dass du dich nicht ungestraft beleidigen lässt.« Die unerbittliche Suche nach Noels Angreifern hatte ihr das deutlich vor Augen geführt. Wahrscheinlich war seine wilde Entschlossenheit auch der Grund, warum der Drahtzieher untergetaucht war.
»Ist dir bei deinen Streifzügen durch die Zufluchtsstätte schon einmal jenseits der Schlucht der Felsen aufgefallen, der in die Wolken ragt?«
»Ich glaube schon. Sehr dünn, spitz …« Die Wahrheit traf sie mit einem Schlag. »Du hast sie auf diesen Felsen fallen lassen, nicht wahr?«
Sie hätte dir das Herz herausgerissen. Ich habe diese Geste nur erwidert.
Von seinem eisigen Ton bekam sie am ganzen Körper eine Gänsehaut. Ihre Finger krallten sich in sein Hemd, dann holte sie tief Luft. »Was würdest du denn mit mir machen, wenn ich dich dermaßen reizen würde?«
»Es gibt nur eine einzige Sache, mit der du mich rasend machen könntest, nämlich wenn du mit einem anderen Mann ins Bett gingest.« Leise flüsterte er ihr die Worte ins Ohr. »Und das würdest du mir niemals antun, Elena.«
Ihr Herz krampfte sich zusammen. Nicht seiner düsteren Worte, sondern seiner Verletzlichkeit wegen. Wieder einmal war sie darüber erschüttert, wie viel Macht sie über dieses göttliche Wesen, diesen Erzengel hatte. »Nein«, versicherte sie ihm. »Ich würde dich niemals betrügen.«
Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Deine Haare sind ganz nass. Ich trockne sie dir.«
Ganz still stand sie da, während er ein Handtuch nahm und ihr vorsichtig das Haar frottierte, es war die Vorsicht eines Mannes, der um seine Kraft wusste. »Du hast mich aus deinem Geist ausgeschlossen.«
»Vielleicht bin ich kein Mensch mehr, aber ich bin immer noch die Frau, die dir damals auf dem Turm gegenüberstand.« Jetzt war dieser furchterregende Mann ihr Geliebter, und sie wusste genau, dass ihre Beziehung unwiderruflich ein für alle Mal zerstört wäre, wenn sie sich ihm ganz fügte. »Ich möchte nicht, dass du nach Lust und Laune in meine Gedanken eindringst.«
»Es heißt, Hannah und Elias stehen in einer geistigen Verbindung miteinander«, sagte er, legte das Handtuch beiseite und führte sie ins Schlafzimmer. »Sie sind also immer zusammen.«
»Ja, aber ich wette, dass diese Verbindung in beide Richtungen funktioniert.« Elena streichelte den Bogen seines rechten Flügels, der majestätisch hoch über seine Schulter hinaufragte. Das Hemd trug er lose über seinem muskulösen Oberkörper, sein breiter Rücken war wie geschaffen für Flügel. »Oder etwa nicht?«
»Mit der Zeit«, sagte Raphael, und seine Stimme wurde eine Oktave tiefer, »wird das bei uns auch so sein.«
Wieder strich sie ihm über den Flügel, küsste ihn auf den Rücken.
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