Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
Illiums Ton verriet alles über die Aufnahmebedingungen für diesen exklusiven Club. »Der Turm ist auf Verteidigung ausgerichtet. Über hundert Engel und eine ebenso große Anzahl ranghoher Vampire befinden sich entweder im Turm oder in seiner nächsten Umgebung.«
Eine ganz schön große Armee, dachte sie bei sich. Aber schließlich waren Erzengel nicht zu Herrschern aufgestiegen, weil sie freundlich und gutmütig, sondern weil sie stark waren und bereit, diese Stärke jederzeit für den Erhalt ihrer Gesetze einzusetzen. Gerade in diesem Augenblick landete ein Vorgeschmack dieser Macht im Garten – ein ganzes Geschwader von Engeln unter Galens Kommando.
Der rothaarige Engel begab sich unverzüglich zu dem Brunnen, und zum ersten Mal bekam Elena Gelegenheit, ihn sich genauer anzusehen. Verblüfft stellte sie fest, dass er wie ein Schläger aussah. Mittelgroß, mit breiten Schultern, kräftigen, muskulösen Oberschenkeln und Bizepsen – um einen von ihnen trug er einen schmalen metallenen Reifen –, die er sich bei seiner Arbeit und nicht beim Muskeltraining erworben hatte. Er hatte ein breites Kinn und sinnliche Lippen – Lippen, bei denen eine Frau auf heiße, unanständige und ganz und gar nicht engelhafte Gedanken kommen konnte.
Galen starrte auf die Leiche. »Sie glauben also, dass das Sams Entführer ist?«
Elena bemühte sich, ihre Überraschung über diesen überaus derben und menschlichen Engel zu verbergen, und nickte. »Sein Geruch stimmt jedenfalls, und soweit ich weiß, ist es bislang noch niemandem gelungen, einen geborenen Jäger hinters Licht zu führen.«
Ein Nicken, die roten Haare glühten im Sonnenlicht. »Treten Sie beiseite, damit wir ihn herausholen können.«
Elena machte Platz, sah zu, wie sie den Vampir bargen, und vergewisserte sich, dass nichts übersehen wurde. Wie sie vermutet hatte, fehlte der Kopf – Enthaupten war die wirksamste Methode, einen Vampir zu töten, gleich danach kam das Verbrennen. Sie überließ es Galen und seiner Mannschaft, den Brunnen und die Umgebung nach dem Kopf abzusuchen, sie selbst ging im Zickzack durch den Garten. »Keine Spur«, murmelte sie schließlich und starrte auf den nun leeren Brunnen. »Der Vampir wurde abgeworfen.«
»Entweder vom Anführer oder einem seiner himmlischen Anhänger«, erklang Illiums vertraute Stimme, seine Flügel waren ein leuchtender Farbklecks inmitten all dem Weiß des Schnees. Die Männer, die Galen begleitet hatten, entfernten sich nun und nahmen den Toten mit sich.
Galens Flügel erinnerten sie an eine Kronweihe – dunkelgrau mit weißen Streifen in den Flügelfalten, die man aber nur sah, wenn er sie wie jetzt zum Abflug ausbreitete. »Der Kopf ist nicht hier«, begann der rothaarige Engel, als auf einmal ein Windstoß den Schnee aufwirbelte – ein Gegenschlag kräftiger Flügelstöße.
Ihr Herz machte einen Satz, als Raphael neben ihr landete. »Wir haben den Kopf gefunden«, sagte er in einem Ton, der die Luft zum Gefrieren brachte. »Er lag auf Anoushkas Kopfkissen, mit eingebranntem Sekhem auf der Stirn.«
Elena war sich ziemlich sicher, dass der Vampir zum Zeitpunkt seiner Brandmarkung noch am Leben gewesen war. Welche Angst er ausgestanden haben musste, als ihm klar wurde, dass der Schakal, den er vergötterte, sich gegen ihn gewandt hatte – er hatte genau gewusst, was auf ihn zukam.
»Hohn und Spott«, sagte Galen. »Gerichtet an Neha und verübt an ihrer Tochter.«
»Jemand treibt hier ein doppeltes Spiel, sehr gerissen«, murmelte Elena und dachte dabei an das, was sie über Anoushka gelesen hatte. Sie war intelligent, ehrgeizig, und zu ihrem Hofstaat gehörten ein paar mächtige Vampire und Engel, sie wäre dazu imstande. Aber das Gleiche traf auch für Nazarach und Dahariel zu.
»Wenn sie wirklich das Opfer ist«, sagte Illium, »wie ist es jemandem gelungen, so nah an sie heranzukommen? Anoushkas Wachen sind die besten.«
»Kein Sicherheitssystem ist vollkommen. Und es hat immer mehr den Anschein, als hätte dieser Engel schon alles Monate im Voraus geplant.«
»Jason?«, riet Elena.
Heftiges Kopfnicken, in der Wintersonne glänzte Raphaels Haar blauschwarz. »Einem seiner Männer ist es gelungen, eine Botschaft auf Charisemnons Hof zu schicken – es gibt keinerlei Hinweise, dass dieses Mädchen je die Herrschaftsgrenzen überquert hat. Dennoch besteht Titus darauf, dass ihm eine Aufnahme zugespielt wurde, die das beweist.«
Galen ergriff als Nächster das Wort. »Können wir denn davon
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