Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
und Belle die Ruhe und der Sturm.« Ihr blutiger Tod hatte eine tiefe Wunde bei den Deveraux hinterlassen.
Slaters schönes Gesicht, seine glänzend roten Lippen.
Verzweifelt schob sie die verhassten Erinnerungen zur Seite, klammerte sich an Raphael. »Ich war das mittlere Kind, und es gefiel mir. Beth war das Baby, aber mich haben Ari und Belle manchmal mitmachen lassen.« Mehr brachte sie nicht hervor, die Erinnerung lastete schwer auf ihrer Brust.
»Ich hatte nie Geschwister.«
Die Worte trafen sie so unerwartet, dass sie ihren eigenen Kummer vergaß. Sie rührte sich nicht, hörte Raphael einfach nur zu und schmiegte sich an ihn.
»Himmlischer Nachwuchs ist selten, und meine Eltern waren bei meiner Geburt schon viele Tausend Jahre alt.« Jede Geburt gab Anlass zu feiern, aber seine wurde ganz besonders festlich begangen. »Ich war seit Jahrtausenden das erste Kind zweier Erzengel.«
Seine Jägerin lag vertrauensvoll in seinen Armen und lauschte aufmerksam, selbst durch sein Hemd hindurch spürte er die Wärme ihrer Hand. Langsam und vorsichtig streichelte er ihren bloßen Rücken, sprach von Dingen, von denen er schon eine Ewigkeit nicht mehr gesprochen hatte. »Aber es gab auch welche, die sagten, es wäre besser, wenn ich nie geboren wäre.«
»Warum?« Elena hob den Kopf und rieb sich die Augen. »Warum sollte jemand so etwas sagen?«
»Weil Nadiel und Caliane schon zu alt waren.« Sie waren sich so nah, dass er bei jedem Atemzug die Berührung ihrer Brüste spüren konnte, er glitt mit der Hand über ihre Taille, ihre Brüste und genoss das Gefühl ihrer nackten Haut. »Man befürchtete, sie seien schon degeneriert.«
Elena runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Unsterblichkeit ist doch Unsterblichkeit.«
»Aber wir entwickeln uns weiter«, sagte er. »Manche verfallen.«
»Lijuan«, flüsterte sie. »Hat sie sich entwickelt?«
»Davon gehen wir aus, aber nicht einmal der Kader weiß, wohin ihre Entwicklung geht.« Richtung Albtraum, so viel war schon mal klar. Aber war es Lijuans ganz persönlicher Niedergang, oder würde sie die ganze Welt zerstören?
Elena war keineswegs dumm. Sie verstand auf Anhieb. »Deshalb hat deine Mutter deinen Vater getötet.«
»Ja. Er war der Erste.«
»Beide?« Mit schmerzerfüllten Augen sah sie ihn an.
»Zunächst nicht.« Er sah die letzten Momente im Leben seines Vaters so deutlich vor sich, als seien sie ihm in die Netzhaut gebrannt. »Mein Vater fand den Tod im Feuer.«
»Dieser Wandbehang«, sagte sie, »der im Treppenhaus hängt – das ist sein Tod.«
»Eine Mahnung an das, was mich möglicherweise erwartet.«
Sie schüttelte den Kopf. »Niemals. Das lasse ich nicht zu.«
Sein Mensch, dachte er bei sich, seine Jägerin. Noch so jung, und trotzdem besaß sie eine Kraft, die ihn einfach faszinierte und auch die kommenden Jahrhunderte hindurch faszinieren würde. Schon jetzt hatte sie ihn auf eine Weise verändert, die er sich nicht erklären konnte – vielleicht konnte sie ihn auch vor Nadiels Wahnsinn bewahren. »Selbst wenn es dir nicht gelingen sollte«, sagte er, »habe ich volles Vertrauen, dass du einen Weg finden wirst, mein Leben zu beenden, bevor ich der Welt schade.«
Kampflustig blinzelte sie ihn an. »Wir sterben«, sagte sie, »wir sterben gemeinsam. Das ist die Abmachung.«
Noch einmal ließ er die Gedanken Revue passieren, die ihn damals beschäftigt hatten, als er ihren verletzten Körper in den Armen gehalten hatte und ihre Gedanken kaum mehr als ein Flüstern in seinem Kopf waren. Nicht eine Sekunde lang hatte er mit dem Gedanken gespielt, an seiner Unsterblichkeit festzuhalten, hatte sich entschlossen, mit ihr, seiner Jägerin, zu sterben. Dass sie nun dieselbe Entscheidung traf … Er ballte die Fäuste. »Wir sterben«, wiederholte er, »wir sterben gemeinsam.«
Einen Moment lang war es ganz still, als hätte endlich etwas seinen angestammten Platz gefunden.
Raphael ließ die schmerzlichen Erinnerungen los und küsste ihren Hals. »Lass uns einmal nachsehen, was Lijuan dir geschickt hat.«
Elena erschauderte. »Gibst du mir dein Hemd?«
Er ließ sie von seinem Schoß herunter. Ihr Körper war so schön, so anmutig … so stark. Als sie gerade mit dem Rücken zu ihm gewandt nach etwas auf seinem Schreibtisch suchte, prüfte er kritisch ihre Muskulatur und fasste einen Entschluss. »Morgen fangen wir mit dem Flugunterricht an.«
Sie wirbelte so schnell um die eigene Achse, dass sie fast auf ihre Flügel getreten wäre.
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