Gilde der Jäger: Engelsblut (German Edition)
doch bis auf ein paar bemerkenswerte Ausnahmen beschlossen die meisten von ihnen zu einem gewissen Zeitpunkt, sich für einige Zeitalter schlafen zu legen und nur hin und wieder aufzuwachen, um von den Veränderungen der Welt zu kosten.
Lijuans Lächeln verblasste, und ihre Stimme hallte in tausend geisterhaften Echos wider. »Man sagt, Caliane habe schon früher geschlafen, mehr als einmal. Aber als sie das letzte Mal erwachte, traf sie Nadiel .«
»Und ich wurde geboren .« Er dachte an seine lachende, singende Mutter und auch an ihr Abrutschen in den Wahnsinn, das scheinbar aus dem Nichts gekommen war. Aber wenn sie schon seit so vielen Jahrtausenden gelebt hatte … »Lügst du mich an, Lijuan ?«
»Ich habe keinen Grund zu lügen. In meiner Entwicklung habe ich selbst Caliane hinter mir gelassen .«
Oberflächlich betrachtet schien das zuzutreffen. Das Alter war bei ihresgleichen noch nie ausschlaggebend für die Machtfülle gewesen. Raphael war so jung zum Erzengel geworden wie kein Engel vor ihm. Und Illium war mit seinen gerade einmal fünfhundert Jahren bereits viel stärker als Engel, die zehnmal so alt waren wie er. Aber das war nicht der Grund, aus dem er sich an Lijuan gewandt hatte. »Ist es meine Mutter, die erwacht ?« , fragte er und hielt ihrem »blinden « Blick stand.
»Es gibt keinen Weg, das herauszufinden .« Das Flüstern in ihrer Stimmen klang fast wie Schreie. »Doch nach dem Ausmaß der Zerstörung, der Stärke der Erdbeben und der Stürme zu schließen, ist derjenige, der erwacht, der Älteste der Uralten .«
Raphael fragte sich, was Lijuan mit diesen Augen sah, ob sich das Opfer einer ganzen Stadt – und dessen, was von ihrer Seele noch übrig gewesen war – dafür gelohnt hatte. »Wenn dieser Uralte nicht bei geistiger Gesundheit erwacht, wirst du ihn oder sie hinrichten ?« Nicht vorher. Niemals vorher. Einen Engel im Schlaf zu ermorden, bedeutete automatisch die eigene Hinrichtung – von diesem Gesetz war niemand ausgenommen. Lijuan mochte zwar immun gegen den Tod sein, doch wenn sie diese Grenze übertrat, würde sie von der gesamten Engelschaft geschnitten werden. Und das war nichts, was einer Göttin gefallen würde.
Noch ein mädchenhaftes Lachen, dieses Mal ein Kichern, das noch verstörender war als ihr Aussehen. »Du enttäuschst mich, Raphael. Welchen Grund sollte ich haben, einen Uralten hinzurichten? Sie können mir nichts tun … aber vielleicht können sie mich in Geheimnisse einweihen, die ich noch nicht kenne .«
In diesem Moment begriff Raphael, dass ein Monster, das zum Leben erwachte, leicht ein anderes unterstützen konnte.
Nach dem Gespräch mit Jeffrey, das direkt auf den schmerzlichen Besuch in der Leichenhalle gefolgt war, fühlte sich Elena, als wäre sie von steinernen Fäusten verprügelt worden. Es wäre verlockend, so verlockend gewesen, sich anschließend zu Hause zu verkriechen und nach einiger Zeit herauszukommen und so zu tun, als sei alles wieder gut.
Aber das wäre kindisch gewesen. Elena war der Luxus von Träumereien, die ohnehin nie erfüllt worden waren, nicht mehr vergönnt gewesen, seit sie als verängstigte Zehnjährige in der Familienküche, die sich in einen Schlachthof verwandelt hatte, ausgerutscht war. »Wissen Sie, wo Jason ist ?« , fragte sie Dmitri, als sie die Leichenhalle verließen.
Dmitri drückte auf die Taste des Funk-Zündschlüssels, um den feuerroten Ferrari zu entriegeln, der auf dem Parkplatz Nur für Mitarbeiter stand. »Haben Sie von Ihrem Glockenblümchen schon die Nase voll ?« Eine Ranke von Champagner wand sich in ihre Sinne, verschnitten mit etwas wesentlich Härterem.
Noch nie hatte sie diese brüske Note in Dmitris Geruch wahrgenommen. Ihr tat die Frau leid, die er heute Abend mit ins Bett nehmen würde. »Ja, genau. Ich gründe einen Harem .«
Beim Öffnen der Wagentür legte Dimitri den Arm auf das Dach des Ferrari. Für einen Augenblick nahm sein Gesicht einen prüfenden Ausdruck an, und sie hatte den Eindruck, als wollte er etwas Wichtiges sagen. Doch dann schüttelte er den Kopf, wobei sich sein Haar in der leichten Brise sanft bewegte, und zog sein Handy heraus, um etwas nachzusehen. »Er ist im Turm .«
Überrascht von der direkten Antwort, rang sie die Boshaftigkeit des Champagners nieder und sagte: »Könnten Sie ihn fragen, ob es ihm etwas ausmachen würde, mich im Haus zu treffen ?«
Dmitri telefonierte. »Er bricht jetzt auf « , sagte er, als er das Handy zuklappte. »Hier gibt es keinen
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