Gilde der Jäger: Engelsblut (German Edition)
sagte sie endlich, »ist sehr schön .«
»Ja, ich werde aufpassen müssen – die Mädchen werden hinter ihm her sein, wenn er etwas älter geworden ist .« Ihr Blick richtete sich auf einen Punkt hinter Elena. »Raphael .« Als sie zu Raphael hinüberging und ihn umarmte, lag so viel Liebe in ihrem Lächeln, dass sich Elenas Brust zusammenzog. »Wie geht es meinem anderen Jungen? Mein Baby bist du nicht. Aber dennoch mein Sohn .«
Elena beobachtete fasziniert, wie Raphael den Kopf neigte und zuließ, dass Sharine erst seine Haare und dann sein Hemd glatt strich. Sie hatte ihn noch nie vor irgendeinem Wesen den Kopf neigen sehen, gleichgültig ob Mann oder Frau, doch er behandelte den Kolibri mit größtem Respekt … und Vorsicht. Einer Vorsicht, mit der man jemand Verletzten behandelt.
Als Elena wieder zu Illium hinübersah, konnte sie nicht ertragen, was sie in seinem traumhaft schönen Gesicht las. Sie trat zu ihm und berührte sacht seinen muskulösen Oberarm – wie in der Zufluchtsstätte war sein Oberkörper nackt. Doch heute Abend trug er auf der Brust das Bild eines riesigen fliegenden Vogels. »Das ist atemberaubend .« Schon bei flüchtiger Betrachtung wurde klar, dass dieser Vogel eine stilisierte Version von Illium selbst war.
»Meine Mutter « , sagte er in dem feierlichsten Ton, den sie je von ihm gehört hatte, »ist diejenige, die Aodhan das Zeichnen und die Bildhauerei beigebracht hat. Ihr als Leinwand zu dienen, gilt unter Engelsgleichen als große Ehre .«
Elena beobachtete, wie Sharine ihre Hand auf Raphaels Hemdbrust legte, wo sie eine nicht vorhandene Falte glättete. »Wir haben uns seit vielen Tagen nicht getroffen « , sagte sie. »Mindestens fünf oder sechs .«
Elena runzelte die Stirn. Sie wusste, dass Raphael seit mehr als einem Jahr keinen physischen Kontakt mehr mit dem Kolibri gehabt hatte, und doch lag in Sharines Worten kein Funken von Humor. Nichts sprach dafür, dass sie als freundlicher Tadel dafür gemeint waren, dass zu viel Zeit verstrichen war. Plötzlich warfen ihre früheren Worte, als sie Illium ihr »Baby « genannt hatte, einen weitaus düstereren Schatten.
»Ja « ,sagteRaphaelmiteinemschwerfälligenLächeln.»Ichwusste,duwürdestmichvordemsiebtenbesuchenkommen .«
Sharine lachte, und es fühlte sich wie warme Regentropfen auf Elenas Haut an. »Sie ist … «
»Ich weiß .« Illiums Muskeln versteiften sich unter ihrem Griff. »Ellie … «
»Schhh .« Sie lehnte sich an ihn und ließ ihren Flügel über seinen streichen. »Sie liebt dich, und sie liebt Raphael. Das ist es, was zählt .«
»Ja .« Er lächelte seine Mutter an, und als der Kolibri sich umdrehte und die Hand ausstreckte, ging er zu ihr, um ihr beim Hinsetzen behilflich zu sein.
Das Dinner war zauberhaft. Elena hatte schon früher gehört, wie Raphael seine Stimme auf diese besondere Weise einsetzte – dass sie sich wie eine körperliche Zärtlichkeit anfühlte – , doch Sharine hatte diese Technik zu einer Kunstform verfeinert. Ihr zuzuhören war, als wäre man mit tausend Bändern von Empfindungen umgeben, von denen jedes einzelne funkelte und glänzte.
Und die Geschichten, die sie erzählte – von Raphaels und Illiums Jugend, wundervolle Geschichten von Tapferkeit und Torheit, erzählt mit dem Stolz einer Mutter auf ihre Söhne. Sharine hatte Raphael nicht geboren, dachte Elena, als sie am späteren Abend auf ihrem Balkon standen und dem Kolibri nachsahen, der mit Illium an seiner Seite davonflog, doch sie hatte genau wie eine Mutter für ihn gesorgt. »Sie erinnert mich an eine hochgezüchtete Treibhausblume .«
»Eine, die geknickt wurde « , sagte Raphael, zog sie an seine Brust und legte den Arm um sie, um sie an sich zu drücken. »Nach dem Rest musst du Illium fragen .«
Sie legte die Hand auf seinen Unterarm und schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Nicht, wenn ich sehe, wie sehr es ihm wehtut .« Sie hatte geglaubt, die größte Tragödie im Leben des blau geflügelten Engels zu kennen. Er hatte eine Sterbliche geliebt und sie aufgrund der Gesetze der Engel und der Lebensspanne der Sterblichen verloren. Doch der Schmerz, den sie heute Abend gesehen hatte, war älter, tiefer … wild und uralt und wütend. »Wie lange bleibt sie in der Stadt ?«
»Sie wird noch in dieser Stunde wieder aufbrechen – es fällt ihr schwer, sich weit weg von zu Hause aufzuhalten .«
Als sie schweigend dastanden, leuchtete am Himmel ein Funke auf. Dann noch einer und noch einer.
Die
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