Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
»Nein.« Aber sie hatte keinen Zweifel daran, dass Shabnams »Familie« sie durchaus aus kaltblütiger Berechnung geopfert hätte, wenn es eine solche Möglichkeit gäbe. »Shabnam war lebendig mehr wert – sie war schon lange bei Neha und genoss ihr Vertrauen und ihre Sympathie.«
»Deine Flügel hängen auf den Boden.«
»Was? Oh.« Die Ermahnung, wie man sie einem Kind gegenüber aussprechen würde, ließ Hitze in ihre Wangen steigen, und sie hob die Flügel an, damit die Spitzen nicht mehr über den roten Sandstein der Terrasse streiften.
Dann sagte er noch etwas, das ihre Scham in das zartbitterste aller Gefühle umschlagen ließ. »Du musst daran arbeiten, deine Flügel bis in die Spitzen zu kräftigen. Wenn Nehas Stimmung umschlägt, kommt es vielleicht zu einem Wettlauf in ein sicheres Versteck, bis ich eine politische Lösung für deine Freiheit ausarbeiten kann.«
»Ich bin nur knapp über dreihundert Jahre alt, Jason.« Zum ersten Mal benutzte sie freiwillig seinen Namen, und diese kleine Intimität vermischte sich mit all den anderen flüchtigen Augenblicken, die zu erleben sie sich immer erträumt hatte – mit jenem Geliebten ohne Namen und ohne Gesicht, den sie sich in ihren dunkelsten Stunden immer vorstellte. Ein Mann, mit dem sie fliegen und die Welt sehen würde, mit dem sie sich ein Leben und ein richtiges Zuhause aufbauen würde, um es mit Lachen und Liebe und Glück zu füllen, wie sie es selbst nie gekannt hatte.
»Selbst wenn ich jeden Tag meines Lebens für Langstreckenflüge trainiert hätte«, sagte sie und klammerte sich dabei mit jedem Funken ihrer Kraft an diesen Traum, während sie sich mit der rauen Realität konfrontiert sah, »könnte ich Neha in der Luft nicht entkommen, nicht einmal für einen winzigen Augenblick.« Neha war ein Erzengel, der schon seit Jahrtausenden auf dieser Welt lebte, ihre Macht war unermesslich. Sie würde Mahiya wie ein Insekt zerquetschen, ohne es überhaupt zu bemerken.
»Und ein Versteck?« Mahiya schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht zulassen, dass sie mich noch einmal lebendig begräbt. Lieber sterbe ich im Kampf um meine Freiheit, als mein Leben tot und in Ketten zu verbringen wie Eris.« Es war ein erbittertes Gelöbnis. »Ich werde nicht zulassen, dass sie meine Flügel an die Wand spießt, wie Lijuan es mit den Schmetterlingen macht, die sie sammelt.«
Bei Mahiyas leidenschaftlicher Bekundung spürte Jason, wie in ihm eine dunkle Wildheit erwachte, doch in der Antwort aus seinem Mund lag eine beinahe eisige Ruhe. Was er eigentlich sagen wollte, blieb tief in der Stille verborgen, die so lange sein Leben gewesen war. »Lijuan würde mich gern zu ihrer Sammlung hinzufügen.«
Mahiya stolperte über eine Unebenheit im Terrassenboden und wäre gestürzt, wenn er sie nicht mit flinker Hand am Oberarm gefasst hätte. Sie starrte ihn an, ohne auf seinen Griff zu achten. »Hat sie dir das ins Gesicht gesagt?«
»Du hast so einzigartige Flügel, Jason. Es wäre zu schade, wenn du im Kampf stirbst und diese Mitternachtsflügel dabei beschädigt würden. Ein stiller, geruhsamer Tod in den Armen eines liebreizenden Mädchens in der Blüte ihrer Weiblichkeit wäre doch viel leichter, findest du nicht auch?«
»Sie hat mir einen friedlichen Tod angeboten.« Er zwang sich, Mahiya loszulassen, obwohl das Verlangen nach Berührungen innerlich an ihm zerrte. »Was Illium angeht, da ist sie wesentlich direkter geworden.«
»Blau mit silbernen Spitzen. Seine Flügel sind wirklich überwältigend«, murmelte Mahiya. »Ich habe ihn einmal gesehen, als er Raphael bei einem Besuch begleitet hat.«
Jason blickte in ihre Augen, die selbst hier im Schatten des Torbogens leuchteten, und plötzlich erkannte er, dass dieses Strahlen ein Anzeichen aufkommender Macht war. Einer Macht, die niemand bemerkt hatte, weil die Veränderung sich schrittweise entwickelt haben musste, ebenso wie alle anderen Aspekte von Mahiyas Kräften. »Deine Flügel sind genauso einzigartig.«
»Das sind sie nicht.« Mahiyas Stimme klang matt. »Meine Mutter hatte die gleichen.«
Das hatte er nicht gewusst. Und wenn Flügel von solcher Schönheit in Vergessenheit geraten waren, bedeutete es, dass jemand die Information bewusst unter Verschluss gehalten hatte. Wie es schien, hatte Neha nicht nur das Leben ihrer Schwester ausgelöscht, sondern auch die Erinnerung an sie. Und jetzt versuchte sie dasselbe mit dem Kind, dessen Flügel das edle Saphirblau und Smaragdgrün eines Pfauenrades
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