Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
von Nehas Flügeln war von einigen leuchtendblauen Fasern durchsetzt, in denen sich Mahiyas Federn widerspiegelten. Die Verwandtschaftsbeziehung war auch anderweitig zu erkennen, allerdings nur, wenn man wusste, worauf man zu achten hatte; und wer alt genug war, um sich die Wahrheit erschließen zu können, wusste auch, dass er am besten nicht darüber sprach.
Für alle anderen war Mahiya eine entfernte Verwandte von Neha, die der Erzengel nach dem Tod der unbekannten Eltern aus Güte bei sich aufgenommen hatte. Dass das neugeborene Kind acht Monate nach Eris’ Einkerkerung und Nivritis vermeintlicher Hinrichtung aufgetaucht war, hatte alle weiteren Zusammenhänge, die andernfalls viele vermutet hätten, in weitere Ferne gerückt. Nur wenige konnten sich vorstellen, dass Neha so grausam gewesen war, ihre Schwester während der Schwangerschaft anzuketten; aber Mahiya hatte diese Geschichte von Neha persönlich gehört.
»Ein Geschenk zu deinem hundertsten Geburtstag.« Das Lächeln des Erzengels jagte Mahiya kalte Schauer über den Rücken. »Die Geschichte deiner Entstehung.«
Engel starben nicht leicht, aber direkt nach der Geburt eines Kindes war ein weiblicher Engel am verwundbarsten. Insbesondere dann, wenn ihm bei der Geburt des Kindes der Unterleib mit einem rostigen Messer aufgeschnitten und das Baby von lieblosen Händen buchstäblich aus dem Bauch gerissen wurde, während seine inneren Organe auf den Boden quollen. Dazu kamen das Fehlen von Nahrung und Wasser sowie die dünne Luft in der Festung hoch oben auf einem weit entfernten Berg, wo ihre Mutter offenbar gefangen gehalten worden war – Nivriti hatte keine Chance gehabt.
Dennoch war sie so mächtig gewesen, dass sie erst nach jahrelangen Qualen endgültig verhungert war.
»Allein deine Existenz ist eine Kränkung«, sagte Neha schließlich beinahe geistesabwesend. »Berichte mir von Jason.«
Mahiya tat es, und es war die Wahrheit … zumindest das, was sie erzählte. Wie Jason gesagt hatte, würde sie es wohl kaum überleben, Neha des Mordes zu bezichtigen. »Er scheint sich an den Schwur zu halten«, schloss sie, »und daran zu arbeiten, die Identität des Mörders oder der Mörder festzustellen.«
Nehas Augen fokussierten etwas in der Ferne, das Mahiya nicht sehen konnte. Der Erzengel trug jetzt einen Seidensari in einem kühlen Champagnerton mit bronzefarbenen Borten, die Falten wurden an ihrer Schulter ordentlich und akkurat von einer antiken Brosche zusammengehalten. Ihre Bluse hatte den gleichen Bronzeton wie die Borten und war perfekt geschnitten. Der komplizierte Schnitt am Rücken, der nötig war, um Platz für die Flügel zu bieten, war mit solcher Präzision ausgeführt, dass die Bluse makellos saß.
Niemand konnte behaupten, dachte Mahiya, dass der Erzengel von Indien nicht das eleganteste aller Lebewesen war. Aber nur Mahiya kannte die rachsüchtigen Tiefen des Hasses, der Neha so lange schon antrieb. Es hatte sie nicht im Mindesten überrascht, dass man Anoushka der Verbrechen an einem Kind für schuldig befand – schließlich hatte der Engel seiner eigenen Mutter dabei zugesehen, wie sie ein Kind einzig und allein zum Zwecke der Vergeltung großzog. Die Güte, die sie tausend anderen Kindern gegenüber zeigte, konnte den Schandfleck dieser einen abscheulichen Tat nicht auslöschen.
»Trauerst du um deinen Vater?«, fragte Neha in die Stille.
»Ich trauere um den, der er hätte sein können.« Eris hatte viele Anlagen gehabt und hätte vielleicht etwas daraus machen können, wenn er in seiner Jugend und seiner Ehe bessere Ratgeber gehabt hätte. Das war alles, was sie zu seiner Verteidigung vorbringen konnte, denn schließlich war er auch erwachsen gewesen und hatte seine eigenen Entscheidungen getroffen.
»In diesem Punkt sind wir uns einig, Kind von meines Blutes Blut.«
Mahiya verharrte regungslos – es hatte schon immer etwas Schlechtes verhießen, wenn Neha die Blutsbande zwischen ihnen ansprach. Heute jedoch wandte der Erzengel nur das Gesicht in die sengende Glut der Sonne, ließ das Licht auf seine goldbraune Haut fallen und sich von der Wärme durchdringen. In diesem Augenblick konnte Mahiya sich vorstellen, warum ihr Volk in Neha eine gütige Göttin sah.
»Als ich ihn kennenlernte, war ich ein Engel von tausend Jahren.« Die Worte waren sanft, ihr Blick in eine längst vergangene Zeit gerichtet. »Mit seinen vierhundert war er für mich kaum erwachsen, und so habe ich ihn auch behandelt. Verantwortungslos, habe
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