Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
in sich trugen.
»Hast du … hast du Lijuans Ausstellungsraum gesehen?«
Jason zögerte, während er beobachtete, wie Mahiya sich die Oberarme rieb, als stünden sie nicht mitten im warmen, weichen Sonnenlicht. »Ja«, sagte er. »Das habe ich.« Der Ausstellungsraum befand sich in der Festung, in der Lijuan damals ihre Wiedergeborenen erschaffen hatte. Er wurde ständig gekühlt, um die an den Wänden hängenden Leichen zu konservieren, deren Flügel zu prachtvollen Ausstellungsstücken ausgebreitet waren.
Von einigen wusste Jason, dass sie unter Umständen gestorben waren, bei denen ihre Flügel keinen Schaden genommen hatten, aber andere … andere waren einfach vom Erdboden verschwunden. »Wenn du diesen Raum gesehen hast«, er spürte den Drang, mit dem Finger über Mahiyas Wange zu streichen, »hast du Glück, noch am Leben zu sein.«
Sie zuckte unter der Berührung nicht zusammen. Eine Hand flach auf ihren Bauch gelegt, sagte sie: »Ich hatte gedacht, ich könnte ihr meine Dienste als Gegenleistung für ein Asyl bei ihr anbieten. Ich hatte mir eingeredet, dass ich eine Art Dienerin werden könnte, die abgesehen von ihren Pflichten frei ist.« Ein Zittern überlief ihren Leib. »Ich glaube, Lijuan hat mich einzig und allein deshalb nicht als Trophäe behalten, sondern zu Neha zurückgeschickt, weil sie zutiefst aufgebracht darüber war, dass ich einem Erzengel, dem ich die Treue schuldete, davongelaufen war.«
»Wenn du eine Katze wärst«, sagte er leise, während seine Gedanken in der gewaltigen Kühlhalle hinter dem Ausstellungsraum weilten – einer Kühlhalle voller Schubladen, die groß genug waren, um Platz für Engelsleichen zu bieten, »würde ich sagen, dass du damit mindestens sieben von neun Leben eingebüßt hast.«
»Was weißt du darüber?« Ihr Flüstern tanzte auf seiner Haut.
»Vieles, was ich nicht ungesehen machen kann.«
Als Mahiya sich einige Minuten später von ihm trennte, kreisten seine Worte noch immer in ihrem Kopf. Auf ihnen lastete eine lauernde Dunkelheit, die sie tief in ihrem verwundbaren Kern berührte, obwohl sie zu dem Schluss gekommen war, dass er ihr Verlangen nicht erwiderte. »Ich muss zu Neha«, sagte sie. »Schließlich soll ich dich ausspionieren.«
Jasons Antwort war ebenso unerwartet wie die flüchtige Berührung, die sie im Hier und Jetzt festgehalten hatte, als der Albtraum von Lijuans Festung sie zu verschlingen gedroht hatte. »Für eine solche Aufgabe bist du nicht hart genug« – beinahe zärtliche Worte – »und ich habe hohe Achtung vor der Kraft, die es gekostet haben muss, gegen die Bitterkeit anzukämpfen, anstatt zuzulassen, dass dein Herz zu einem gefühllosen Stein erstarrt.«
Nie zuvor war das jemandem in den Sinn gekommen. Niemand hatte bisher begriffen, welche bewusste Willensanstrengung es sie gekostet hatte, unverdorben und ungebrochen weiterzuleben. Erschüttert darüber, wie er sie so tief berühren konnte, während er selbst so distanziert blieb, sagte sie: »Ich muss los«, und wandte sich zum Gehen.
Als sie einige Sekunden später einen Blick über die Schulter warf, war er verschwunden. Am Himmel war keine Spur von dem Meisterspion, der bis in ihre Seele blicken konnte. »Wo bist du, Jason?«
Der Wind hatte keine Antwort für sie.
Also löste sie den Blick vom Himmel, holte tief Luft und legte die emotionale Rüstung wieder an, die Jason mit nichts als einer Berührung und ein paar Worten demontiert hatte. So ungeschützt und verwundbar konnte sie nicht zu Neha gehen.
Als sie Neha zehn Minuten später gefunden hatte, hielt sich diese nicht in den kühlen Räumen ihres privaten Palasts auf, sondern erging sich auf den Befestigungsmauern und blickte über die Stadt, die ihr gehörte. Die Flügel eng an den Rücken angelegt und ihre Gefühle strikt unter Kontrolle, beobachtete Mahiya, wie der Erzengel Besuchern zunickte, die den steilen, gewundenen Pfad zur Festung hinaufritten oder -gingen. Auf dem Weg zur Festung und in ihr selbst gestattete Neha keine modernen Fahrzeuge, doch Elefanten, Kamele und Pferde wurden als Transportmittel akzeptiert.
»Hast du vergessen, mit wem du es zu tun hast?« Mit seidenweicher Stimme.
»Ich bitte um Verzeihung, wenn ich einen Fehler gemacht habe, Mylady.« Früher hätten diese Worte wie Metallsplitter in ihre Kehle geschnitten. Heute waren sie nicht mehr als Werkzeuge, um den Erzengel abzulenken, während sie auf ihren Ausbruch aus diesem Gefängnis hinarbeitete.
Stille. Das kühle Weiß
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