Gildenhaus Thendara
bereit war, ihr Leben für ihren Eid zu opfern, und doch ließ sich ein verräterisches Teilchen ihres Ichs nicht unterdrücken. Sie wusch sich ihr geschwollenes Gesicht und sagte sich, daß sie morgen früh vielleicht in die terranische Zone zurückgehen würde, mit Jaelle - oder ohne sie. So oder so, es war dann nicht ihre Schuld, sie hatte nicht aufgegeben. Die ganze Spannung, die sich seit dem Schwertkampf bis zur Unerträglichkeit aufgebaut hatte, würde verschwunden sein. Der Bruch mochte schmerzen, aber dann konnte es nur noch besser werden. Im Musikzimmer scharten sich Jaelle und mehrere andere um Rafaella und drängten sie zu singen.
„Rafi, ich habe keine Musik mehr gehört, seit ich in die terranische Zone gegangen bin. Dort spielt und singt niemand. Die Musik kommt aus kleinen Metallschirmen und hat nur den Zweck, das Geräusch der Maschinen zu übertönen, es ist gar keine richtige Musik… Sing etwas, Rafi, sing die Ballade von Hastur und Cassilda…”
„Dann sitzen wir die ganze Nacht hier, und Mutter Lauria hat doch ein Haustreffen angesetzt”, protestierte Rafaella, aber sie nahm die kleine R ryl, die für Magda wie eine Kreuzung zwischen einer Gitarre und einer Zither aussah, und hielt ihr Ohr dicht an das Instrument, während sie es stimmte und die Wirbel behutsam anzog. Dann setzte sie sich hin, die R ryl auf dem Schoß, und begann mit leiser Stimme zu singen. Es war eine Ballade, die Magda als Kind in Caer Donn gehört hatte. Ihre Mutter hatte ihr gesagt, sie sei unermeßlich alt, vielleicht sogar terranischen Ursprungs.
Immer, wenn es abends dunkelt,
Traurig ich am Ufer schreite,
Wo ein Gott, von Licht umfunkelt,
des chieri Töchter freite.
Ach, doch etwas fehlt mir hier,
Ach, ich bin allein;
Wann wirst du, mein’ schönste Zier,
Wieder bei mir sein?
Es folgte ein seltsamer, ins Blut gehender Refrain in einer Sprache, die Magda nicht kannte. Sie hätte sich gern bei Rafaella erkundigt, wo sie dieses Lied gelernt habe, was das für eine Sprache sei, und die Fassung dann mit den terranischen Sprachspeichern verglichen… Aber sie hielt sich zurück. Sicher hatte Jaelle ihrer besten Freundin anvertraut, daß sie Magda im Badezimmer in hysterischem Zustand angetroffen hatte. Alle warteten auf sie, sie war als letzte gekommen…Das alte Lied rief ihr ihre Kindheit ins Gedächtnis zurück, ihre Mutter, die in den eisigen Bergen der Hellers stets die warme darkovanische Kleidung trug und in einen karierten Schal eingehüllt gewesen war. Die Rryl Rafaellas hatte den gleichen Klang wie das Instrument, das ihre Mutter gespielt hatte, und eine Zeitlang hatte Magda sich bemüht, die Griffe zu lernen.
Die weichen Arpeggios der Begleitung erstarben. Mutter Lauria trat hinter Magda ein und legte ihr eine warme, trockene Hand auf die Schulter. Magda drehte sich um, und die alte Frau sagte leise: „Mut, Margali” Ihre Freundlichkeit war an Magda verschwendet; sie dachte nur: Glaubt sie, ich werde ihnen allen Schande machen, indem ich zusammenbreche? Zum Teufel mit ihr! Mutter Lauria las ihr den Trotz vom Gesicht ab und seufzte. Aber sie schob Magda nur weiter ins Zimmer hinein, wo die Frauen auf Sesseln und Bänken und auf den Kissen am Fußboden Platz nahmen. Rafaella steckte die Rryl sorgfältig in ihre Hülle und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen neben Jaelle. Vollständiges Schweigen trat ein. Mutter Lauria sagte: „Können wir anfangen? Ich werde das Haustreffen heute abend selbst leiten”
Man brachte einen Armsessel für die Gildenmutter und stellte ihn in die Mitte, und von neuem überfielen Magda böse Ahnungen. Für gewöhnlich saß die Gildenmutter oder die Älteste, die den Vorsitz hatte, wie alle anderen zwanglos auf dem Fußboden. Normalerweise
fand nur alle vierzig Tage ein Haustreffen statt, und den Neuen war dabei nicht erlaubt, sich zu Wort zu melden. Es wurden Beschwerden vorgebracht, oder es wurde ernsthaft über die Finanzen und die Politik des Hauses, die Besuchsstunden und die Arbeitseinteilung diskutiert. Magda fragte sich, ob sie sich Alpträume aus dem Nichts schaffe. Schließlich war die Frau alt und hatte ein lahmes Knie; sie war die älteste der Gildenmütter, und ihr Leiden erlaubte ihr nicht, bei einer längeren Veranstaltung auf dem Boden zu sitzen.
Lauria begann ernst: „Seit mehr als zehn Tagen schwirrt das Haus von Klatsch. Mit übler Nachrede beseitigt man kein Problem. Wir müssen heute abend über Gewalttaten und andere Dinge sprechen, aber als erstes wollen
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