Gillian Shields - Der Zauber der Steine
aus einem Fenster im Flur vor dem Schlafsaal gefallen. Sie kann von Glück sagen, dass sie nach diesem Sturz auf die Steinstufen noch lebt. Weiß der Himmel, wie es passiert ist. Wahrscheinlich hat sie sich zu weit hinausgelehnt.« Sie machte eine kurze Pause. »Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Vielleicht war es gar kein Unfall? Ich weiß, dass ihr im letzten Halbjahr unzertrennlich wart. Gibt es irgendeinen Grund, weshalb Helen sich mit Absicht aus dem Fenster gestürzt haben könnte? War es vielleicht ein Hilfeschrei?«
Das Bild, wie Helen mitten in der Nacht auf dem steilen Giebeldach der Abtei herumkletterte, kam mir wieder in den Sinn. Mit diesem »Tanz auf dem Wind« hatte sie ihre Macht über die Luft ausprobieren wollen. Doch mir fiel noch etwas anderes ein. Im Kinderheim, hatte sie schon einmal daran gedacht, sich das Leben zu nehmen, das hatte sie mal erzählt. War sie heute vielleicht in einer ähnlichen Situation gewesen? War das Mal auf ihrem Arm so unerträglich geworden, dass sie keinen anderen Weg gesehen hatte? Warum hatte ich sie nicht ermuntert, sich mir anzuvertrauen? Ich hatte mir doch geschworen, mich um meine Freundinnen zu kümmern. Mir wurde eng ums Herz, wenn ich daran dachte, dass ich Evie und Helen nach den Ferien ziemlich vernachlässigt hatte.
»Ich habe das in ihrer Tasche gefunden«, fügte Miss Hetherington hinzu, »vielleicht könnt ihr damit etwas anfangen.« Sie reichte uns ein Stück beschriebenes Papier, unverkennbar Helens umständliche Handschrift.
Ich schwebe am Sternenhimmel, ein Vogel hoch über der Erde. Ihr habt meine Flügel abgeschnitten, und ich stürze
herab wie der prasselnde schwarze Regen.
Skybird, Vogel am Himmel,
voller Geheimnisse,
voller Sorgen.
Ich falle schnell,
falle heraus aus meinem Körper
in die tiefblaue Schwärze der Nacht.
Und die Sterne heißen mich willkommen.
Lasst mich fallen, lasst mich frei, lasst mich los.
» Es ist eines von ihren Gedichten«, sagte ich, »manchmal hat sie so etwas geschrieben. Das soll aber nicht heißen …«
»Ich habe mich nur gewundert; klingt das nicht wie ein Schrei nach Freiheit?« Zweifel sprachen aus Miss Hetheringtons Blick. »Als ob Helen sich etwas antun wollte.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Evie zögernd, »sie hatte ihren Vater, sie hatte uns. Es muss ein Unfall gewesen sein.«
»Ich bin sicher, du hast Recht«, antwortete Miss Hetherington, »ein Glück, dass es nicht schlimmer ausgegangen ist.«
»Hat sie … hat sie irgendetwas gesagt?«, fragte ich.
»Vorhin als der Arzt hier war, war sie bei Bewusstsein.«
»Und hat sie gesprochen?«
»Nichts Sinnvolles, nur einzelne Sätze ohne jeden Zusammenhang«, antwortete Miss Hetherington ausweichend.
»Aber was sagte sie genau?« Ich blieb hartnäckig. Wenn Miss Hetherington eine Verbindung zum Zirkel hatte, würde sie schweigen. Wenn nicht, was ich hoffte und insgeheim glaubte, würde sie mich verstehen. Wie auch immer, ich musste es wissen.
»Was hat Helen gesagt?«
In diesem Augenblick kam die Krankenschwester zurück, ging zu Helens Bett und beantwortete die Frage. »Oh, die arme Helen. Sie sprach über den Wind und übers Tanzen und über … ich weiß auch nicht … eine Priesterin. Viel Sinn machte es nicht, meinen Sie nicht auch, Miss Hetherington?«
»Eine Priesterin?«, wiederholte ich.
»Ja, genau. Aber Helen war schon immer sehr, sagen wir, sehr sensibel, nicht wahr?«
»Wie dem auch sei«, Miss Hetherington schien erleichtert, »ich bin froh, mit euch gesprochen zu haben. Der Arzt meinte, Helen braucht jetzt vor allem Ruhe.«
Mit diesen Worten schickte sie uns aus dem Zimmer. Wir könnten morgen früh gerne wiederkommen.
Sobald wir die Tür hinter uns geschlossen hatten, platzte Evie heraus: »Es war kein Unfall, oder? Sie ist schuld, Mrs Hartle! Sie muss den Schutzzauber durchbrochen haben, was meinst du?«
Ich schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich weiß nicht. Vielleicht war es wirklich ein Unfall …«
»Bestimmt nicht! Das ist genau das, was ich auch zu gerne glauben würde, aber das bringt uns jetzt nicht weiter. Der Zirkel sinnt auf Rache. Du hattest die ganze Zeit über Recht, Sarah. Das Mal auf Helens Arm, ich wusste, dass es ein Vorzeichen der Gefahr war, aber ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Und Helens Gedicht, wie unglücklich muss sie gewesen sein. Oh Gott, ich bin so egoistisch gewesen! Es tut mir so leid.«
»Ich war auch nicht besser, auch mir tut es leid.«
»Das stimmt nicht! Du
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