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Gillian Shields - Der Zauber der Steine

Gillian Shields - Der Zauber der Steine

Titel: Gillian Shields - Der Zauber der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Band 3
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und alle Gefühle verschwanden für immer.

Neunundzwanzig
    Hinab stiegst du in die Erde, Schwester,
du sankst hinab.
Die Steine riefen nach dir,
die Hügel griffen nach deinem Herz.
Hinab stiegst du in die Erde.
    Angst packte dich, sie raubte deinen Atem.
Doch die Erde beschützt dich
wie die Arme eines Liebenden.
Wer wird jetzt mit deinen Augen sehen?
Wer tröstet all die, die du zurückgelassen hast?
Hinab stiegst du in die Erde.
Das Gras wächst, die Flüsse rauschen,
aber die Vögel bleiben stumm.
Weißer Schwan, du verlässt uns.
Du bist fort, Schwester.
Hinab stiegst du in die Erde.
    Hinab stiegst du ins Grab,
hinab in die Arme des Todes.
Wann werde ich dich wiedersehen?
Ein weißer Schwan fliegt über den Mond
und schweigt.
    Helens Stimme weckte mich aus einem langen Schlaf. Ich öffnete die Augen. Ich war in einem Wald, umgeben von hohen schlanken Bäumen. Glockenblumenfelder schimmerten wie violetter Nebel in der Ferne. Auf der Wiese leuchteten weiße Blumen. Ich trug ein langes grünes Gewand, das über und über mit Blüten und Früchten und ineinanderverschlungenen Blättern bestickt war. Die Bronzekrone saß auf meinem Kopf, und ich trug Rosen im Haar. Ein silbernes Amulett hing um meinen Hals. Ich hatte es schon einmal gesehen, ineinandergeflochtene Silberfäden, die einen prachtvollen Kristall einfassten. Natürlich erinnerte ich mich daran. Es war der Talisman. Ich erinnerte mich an alles.
    »Nutze ihn gut«, hatte Evie gesagt, »es ist deine Zeit.«
    Ich blickte mich um, aber sie war nicht da. Ich war allein an diesem stillen verwunschenen Ort. Die Farben wirkten strahlender als alles, was ich bisher gesehen hatte. Als ob dieses Blau und dieses Gelb und dieses Grün nur für diesen Moment geschaffen worden wären. Die Luft war so rein, dass mir ganz leicht im Kopf wurde. Hier konnte alles wachsen und erneuert werden und Frieden finden.
    Ein weißer Pfau stolzierte majestätisch über das Gras. Ich folgte ihm, und schon bald ließen wir den Wald hinter uns. Vor uns breitete sich ein weites Tal mit fruchtbaren Feldern aus, auf denen das schnittreife Korn golden in der Sonne leuchtete. Scharlachrote Mohnblumen streiften meine Knöchel, als ich über das Feld zu einem im gleißenden Licht glitzernden See ging.
    Auf einer Insel in der Mitte des Sees erhob sich ein majestätischer Baum. Er sah aus wie der Steinerne Baum in der Unterwelt, aber dieser Baum hier lebte. Es war der Baum des Lebens. Seine Rinde schimmerte golden, seine Blätter schillerten in allen Farben: von hellem Grün bis Tiefrot. Als ich am Ufer stand und den Baum betrachtete, hörte ich, wie sich neue Blätter entfalteten und die Früchte reiften. Dieser Baum war die Wurzel aller anderen Bäume auf der Erde.
    Der Pfau schritt langsam am Ufer hin und her und pickte Samen vom Boden. Wie sollte ich über den See zum Baum des Lebens gelangen? Das Wasser war zwar klar, der Weg aber zu weit, um hinüberzuschwimmen. Wenn nur Evie hier wäre! Dann erinnerte ich mich an ihre Worte. Nutze ihn gut. Ich löste den Talisman von meinem Hals und zog ihn durchs Wasser. »Bitte lass mich passieren«, sagte ich, »ich bin ein Kind der Erde. Ich will nichts Böses.«
    Am Ufer begann eine Efeuranke aus dem Boden zu sprießen, sie wuchs und wuchs und drehte sich um sich selbst wie ein dickes Seil. Sie reckte und streckte sich über das Wasser bis zur Insel wie eine Hängebrücke. Rasch ging ich darüber bis zum Baum des Lebens, wo alles Atmen und Wachsen wohnte.
    »Willkommen, kleine Schwester«, sagte eine Stimme. Woher kam sie nur? »Du hast großen Mut bewiesen. Das ist der Lohn.«
    Ein einzelnes Blatt fiel von einem der oberen Äste, schwebte durch die Luft, bis es schließlich auf der Innenfläche meiner Hand landete. »Geh«, sagte die Stimme, »und sei eine Königin.«
    In der nächsten Sekunde war ich wieder in der Finsternis. Ein modrig riechendes Grabtuch bedeckte mein Gesicht, und ich spürte etwas Schweres auf meinen Augen. Einen Moment lang überfiel mich Panik. Hatten die Kinsfolk ein übles Spiel mit mir gespielt? Gab es gar keinen Weg zurück? Mit großer Mühe bewegte ich meine Hand, in der ich immer noch das kostbare Blatt hielt, dann hörte ich Stimmen.
    »Sie bewegt sich … sie erwacht!« Ich fühlte Hände, die mich nach oben zogen und mir das Tuch vom Gesicht nahmen. Ich war wieder in der Höhle. Die Fesseln lagen zerschnitten auf dem Boden, und die Kinsfolk umringten mich. Ich trug immer noch das grüne Gewand, aber das Blatt, das ich

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