Gillian Shields - Der Zauber der Steine
Tiefen der Erde. Ich hatte ein Versprechen zu erfüllen.
Die zurückgebliebenen Kinsfolk zogen mich auf die andere Seite der Höhle. Dort erhob sich ein riesiger Felspfeiler. Er stand da wie ein steinerner Baum, der mit roten Lämpchen geschmückt war. Der Anführer entzündete sie mit seiner Fackel, schwerer süßer Rauch erfüllte die Luft. Und dann begann es. Ich hörte die Trommeln. Den monotonen Singsang. Ich sah die kalten Klauenhände, die sich nach mir ausstreckten, und spürte, wie sie an meinen Kleidern und meinen Haaren zerrten. Maria hatte das auch erlebt und war in Panik geraten. Sebastian hatte sie gerettet. Aber ich musste es ertragen. Dann berührten die Finger des Anführers den Talisman, der immer noch um meinen Hals hing, er zuckte zurück und schrie: »Aiiii! Sie trägt den Stein der Kraft! Sie hat Zauberkräfte!«
Das Trommeln und das monotone Singen wurden noch ekstatischer, die bizarren Töne hallten von den Höhlenwänden wider. Einer der Kinsfolk nahm ein großes Stück groben Stoff aus seinem Beutel und legte es mir wie ein Festgewand um die Schultern. Dann banden sie mich an den Steinbaum, wetzten die Messer und schärften die Speere. Instinktiv wollte ich schreien, aber der schwere süße Rauch kroch in meinen Kopf und flüsterte mir alte Geschichten zu, die meine Angst dämpften.
Hör auf die Trommeln.
Bis jetzt hatte ich die Trommeln in meinem Kopf gehört, nicht in meinem Herzen. Ich hatte nur das gehört, was in meinen Ohren klang, wild, furchterregend und fremd. Aber jetzt hier, tief unter der heiligen Erde, hörte ich mit meiner Seele. Ich hörte zu, und losgelöst von meiner Angst verstand ich endlich. Die Trommeln waren ein Klagelied über die lange Sklaverei der Kinsfolk und nicht etwa ein Aufruf zum Krieg. Im Gegenteil: Sie waren ein Aufruf zum Leben. Die Trommeln schlugen im Takt meines Herzens, und mir wurde klar, dass sich in dieser Höhle noch ein anderes Schicksal erfüllte, nicht nur mein eigenes.
»Wer bist du?«, fragte ich. »Wo kommst du her?«
»Ich bin Kundar«, sagte der Anführer. Er berührte seine vernarbte Brust. »Ich bin der Häuptling. Wir sind Erdmenschen. Sklaven. Die neue Königin wird uns befreien.« Er griff in seinen Beutel, holte etwas roten Puder heraus, der aussah wie gemahlene Tonerde, spuckte in die andere Hand, mischte eine Paste daraus und malte mir ein Zeichen auf die Stirn, das wie ein Auge aussah. »Sieh mit Kundars Augen. Sieh wie die Kinsfolk.«
Der Rauch lichtete sich, und ich sah wieder klar. Ich war nicht mehr in der Höhle, sondern auf dem Blackdown Ridge. Ich blickte mich um. Die Häuser von Wyldcliffe waren verschwunden. Die Türme und Giebel der Abtei waren verschwunden, das Einzige, was mir bekannt vorkam, war der Steinkreis auf dem Hügel. Unten im Tal sah ich eine Ansammlung von Holzhütten mit Strohdächern. Ich erkannte eine Reitergruppe, kleine gedrungene Männer, die auf ihren struppigen Ponys über das weite Land auf die Hügel zuritten und ihre Bronzespeere im Sonnenlicht schwenkten. In ihren schwarzen Haaren glitzerten rote Strähnen. Als sie näher kamen, sah ich, dass einige von ihnen kunstvolle Armbänder und Ketten trugen und ihre Kleider aus Tierhäuten und Wolle gefertigt waren. Ich erkannte auch, dass hinter ihnen Frauen und Kinder auf den Pferden saßen und sich an ihnen festklammerten. Einige junge Männer rannten barfuß neben den Reitern her.
Nachdem sie die Menhire erreicht hatten, stiegen sie von ihren Pferden. Der ganze Stamm bildete einen Kreis. Sie hielten frisch geschnittene Zweige in die Luft und schwenkten sie hin und her, dabei sangen sie monotone Lieder. Dann wurde ein etwa vierzehnjähriges Mädchen ausgewählt, ein aufgeregtes Raunen ging durch die Runde, die Zweige wurden auf den Boden geworfen. Das Mädchen trat in die Mitte, ihr blasses Gesicht wirkte ängstlich, aber ihre Haltung drückte Stolz und Würde aus. Ein s chmaler Bronzereif wurde auf ihren Kopf gesetzt. »Hinab in die Erde«, schrie die Menge, »die neue Königin geht hinab in den Tod! Sie bringt das Leben zurück, für uns alle!«
Dann verschwand das Bild in einem Wirbel aus Farben. Jetzt sah ich die Menschen, wie sie vor ihren Hütten rund um ein Feuer zusammensaßen und gemeinsam aßen. Eine Frau melkte eine Ziege, Kinder spielten und tollten im Gras. Im nächsten Moment war der eben noch so friedliche Ort von gellenden Schreien erfüllt, und blonde Reiter preschten durch das Dorf, zertrampelten die Feuerstelle und
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