Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
oder waren das nur meine wirren Gedanken, die versuchten, all den Dingen einen Sinn zu verleihen, während ich schlief? Vielleicht war ich zu gedankenlos gewesen, was unsere Flucht vor dem Hexenzirkel in der Nacht zuvor anging. Die Zuversicht, die ich zuvor empfunden hatte, begann sich aufzulösen. Schließlich hätten sie uns erwischt, wenn Sarah nicht in der Lage gewesen wäre, ihr Näherkommen durch Erd- und Gesteinsschichten hindurch zu spüren. Sie hätten den Talisman in die Finger kriegen können. Sie hätten mich kriegen können. Es hätte meine letzte Woche sein können, mein letzter Tag, wie mir auf dem Zettel angedroht worden war.
Während ich mich abtrocknete, strich meine Hand über den Anhänger; er hing an der Silberkette unter meinem Nachthemd und lag kühl auf meiner Haut. Obwohl
die Bluse, die zur Schuluniform gehörte, bis hoch oben zugeknöpft war und ihn daher gewöhnlich zusammen mit dem Halstuch verbarg, musste ich manchmal meine Sportsachen anziehen, musste ich duschen, mich ins Bett legen und schlafen. Jederzeit konnte eine der Lehrerinnen ihn sehen, ob sie dem Hexenzirkel diente oder nicht, und ihn einfordern. Gib mir deine Kette ... gib mir deine Kette …
Ich hatte eine Entscheidung getroffen.
Ich würde meinem Traum-Sebastian vertrauen. Er hatte mir gesagt, dass ich den Talisman verstecken sollte, und das würde ich auch tun, bis ich bereit war, ihn zu benutzen. Ich zog meinen Morgenmantel zu, verließ das Badezimmer und ging rasch ins Schlafzimmer zurück, schlich mich an Helens Bett und rüttelte sie sanft wach.
»Schschschsch«, warnte ich sie. »Ich bin’s nur.«
Helen setzte sich auf und gähnte; mit schläfrigen Augen strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Ich kniete am Rand ihres Bettes und versuchte, ihr eilig und im Flüsterton alles zu erklären, bevor die anderen Mädchen aufwachten.
»Nach diesem seltsamen Traum und dem, was letzte Nacht passiert ist, glaube ich ganz fest, dass wir ihn irgendwo anders verstecken müssen«, sagte ich leise.
»Ich schätze, du hast recht. Ihn zu tragen ist wie eine Einladung für sie, ihn sich zu holen. Aber wo wäre er wirklich sicher?«
Das hatte ich bereits entschieden. Es gab nur einen einzigen Ort.
»Uppercliffe. Dort wird ihn niemand finden.«
»In Ordnung. Wann?«
Glücklicherweise war Sonntag. Wir würden am Nachmittag nach draußen gehen dürfen.
»Wir gehen heute, sobald wir können«, sagte ich.
Celeste drehte sich träge in ihrem Bett um und öffnete ihre großen, unschuldigen Augen. »Wohin geht ihr?«
Ich beachtete sie nicht weiter. Je früher der Talisman außer Sichtweite vergraben war, desto sicherer würde er sein.
Sechzehn
Aus den persönlichen Unterlagen
von Sebastian James Fairfax
Ich bin außer Sichtweite begraben, hier an diesem en─ gen, lichtlosen Ort. Aber jetzt endlich werde ich heraus─ kommen. Ich werde frei sein.
Ich habe dich gesehen.
Vielleicht ist es erst eine Stunde her oder ein ganzes Leben. Ich kann mir solche Dinge nicht länger merken. Aber ich habe dich gesehen, Evie, habe dich berührt. Ich habe mich wieder lebendig gefühlt. Du hast schon immer dafür gesorgt, dass ich mich lebendig fühlen konnte.
Leben, Atem, Kraft – und all das nur wegen dir.
Ich habe in der Abtei in dem Zimmer auf dich gewartet, das einmal Agnes gehört hat, auch wenn jetzt alles kahl und anders war. Es war Sonnenuntergang. Die Erde war von Feuer und Eis belebt. Feuer und Wasser.
Agnes und Evie.
Agnes war wie meine Schwester, aber du bist meine ganze Welt.
Ich habe auf dich gewartet. Ich habe deine Schritte gehört, und dann warst du auch schon in meinen Ar─
men. Wenn ich die Augen schließe, kann ich mich immer noch an deine weiche Haut erinnern, an den Geruch deiner Haare. Ich kann spüren, wie dein Herz schneller schlägt, wie dein Atem an mir vorbeistreicht ...
Oh, Gott! Wie kann ich es ertragen, auch nur einen einzigen Moment von dir getrennt zu sein, wenn ich nur noch so wenig Zeit habe?
Dich zu sehen hat mir Kraft gegeben.
Ich werde dich wieder erreichen, und nicht nur in meinem Geist. Es war ein Traum, und doch nicht nur ein Traum. Jetzt muss ich ihn Wirklichkeit werden lassen. Du hast mich aufgeweckt, und ich habe nicht mehr das Gefühl, als wäre ich so sehr des Lebens beraubt.
Ich werde hier rauskommen.
Evie, ich werde zu dir kommen. Ich werde einen Weg finden.
Ein Licht scheint auf mein Gesicht. Die Dunkelheit hat sich leicht zurückgezogen. Das Eis in mir schmilzt, und das
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