Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
alles nur deinetwegen.
Siebzehn
D er Schnee war über Nacht geschmolzen, und die Wiesen hatten sich in Schneematsch verwandelt. Die meisten Mädchen aus meiner Klasse beklagten sich während des langen Weges zur Dorfkirche und wieder zurück über nasse Füße und kalte Finger, aber mir gingen andere Gedanken im Kopf herum.
Sarah und ich würden am Nachmittag nach Uppercliffe reiten, und vor unserem Besuch bei dem Gehöft würde ich die erste Reitstunde erhalten, die Dad abgemacht hatte. Um die Wahrheit zu sagen, ich war nicht wild darauf, mich wieder auf den Rücken eines Pferdes zu begeben. Aber bei Pferden weiß man vorher nie so recht, was sie tun, oder? Sie sind gefährlich … Ich hatte versucht, Harriets dumme Bemerkungen abzuschütteln, aber mein Magen war schon wieder reichlich nervös. Obwohl ich auf einem Pony sitzen und über die Moors zuckeln konnte, wusste ich nicht genau, wie man richtig ritt. Ich hoffte, die Lehrerin würde nicht von mir erwarten, dass ich galoppierte oder womöglich sogar sprang oder irgendetwas anderes Ausgefallenes machte. Ich hatte keine Angst, auch bei rauem Wetter im Meer zu schwimmen, aber ich war nicht mit Pferden aufgewachsen und würde mich mit ihnen nie richtig wohlfühlen.
Nach dem Mittagessen ging ich in den Schlafsaal, um mich umzuziehen, zog dort die neue weiche Reithose und die glänzenden Stiefel an, die Dad mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Ich tastete nach der Kette unter dem Pullover.
»Agnes?« Ich zögerte. »Agnes, sag mir, tue ich das Richtige? Soll ich den Anhänger nach Uppercliffe bringen? « Die dünnen Vorhänge um mein Bett herum bewegten sich, als würden sie von einer Brise aus den Moors dazu gebracht, und ich hörte das Echo eines Seufzers. Dann wurde es wieder still. Nur mein Herz pochte drängend.
Sarah wartete. Ich musste gehen.
Ich eilte aus dem Schlafsaal und die Treppe hinunter. Meine Schritte hallten laut von den Marmorstufen wider. Als ich den zweiten Stock erreichte, wo sich die Unterkünfte der Lehrerschaft befanden, sah ich, wie Miss Scratton die Tür zu einem der Zimmer abschloss. Sie blickte auf, und als sie mich erkannte, winkte sie mich zu sich.
»Ich habe gehört, dass du mit Sarah ausreiten willst? Sie hat gestern Abend darum gebeten, dass ihr heute Nachmittag gemeinsam über die Moors reiten könnt.«
»Ja, äh …«
»Passt auf, dass ihr nicht zu lange draußen bleibt. Es wird wieder kälter, und ich glaube, es wird auch wieder Schnee geben.«
»Ich bin sicher, dass mir nichts passieren wird, Miss Scratton.«
»Ich habe gehört, dass während deiner Ferien deine Großmutter beerdigt worden ist«, sagte sie so ruhig und
ernst wie immer. »Der Tod ist sehr hart für junge Menschen. Lass mich wissen, wenn es irgendetwas gibt, das wir für dich tun können.«
Es sah so aus, als wäre da aufrichtiges Mitgefühl in ihren kühlen, intelligenten Augen. Einen Moment lang drohte ihre Freundlichkeit mich aus der Fassung zu bringen. Ein Teil von mir wollte wirklich mit ihr reden, ihr alles über Frankie erzählen und sich trösten und beruhigen lassen. Ich fühlte mich verwirrt durch das Bild, das ich in meinem Traum von Miss Scratton gehabt hatte, als sie versucht hatte, mir den Talisman wegzunehmen. Es passte nicht zu dieser offenbar besorgten Lehrerin, die da vor mir stand. Ich zwang mich, ruhig zu lächeln.
»Danke. Aber ich komme zurecht.«
»Daran zweifle ich nicht«, antwortete sie weich. »Es gibt ein uraltes Sprichwort: ›Das Herz trauert, aber der Weise spürt die Toten nicht auf.‹ Vergiss das nicht, Evie. Du darfst nicht …«
In diesem Augenblick trat Miss Dalrymple aus einem der Zimmer; sie lächelte und nickte und tupfte sich den Mundwinkel mit einem winzigen Spitzentaschentuch ab. »Gehst du reiten, Evie? Hervorragend! Ich bin davon überzeugt, dass Miss Scratton dir ein paar gute Ratschläge geben kann. Sie ist eine wunderbare Reiterin, eine ganz, ganz wunderbare Reiterin.« Die penible, überhebliche Lehrerin grinste höhnisch bei diesem Kompliment. »Wirklich. Egal um welches Thema es geht – Miss Scrattons Ratschläge sind immer unschätzbar.«
Ein gereizter Ausdruck schien über Miss Scrattons schmales Gesicht zu flackern, aber ihre Züge glätteten sich rasch wieder. »Was für ein Unsinn! Ich bin seit Jahren
nicht mehr geritten. Du siehst jetzt besser zu, dass du weiterkommst, Evie. Und wie ich gerade sagen wollte, lauf nicht so auf der Treppe.«
Ich durchquerte das Gebäude und ging über den
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