Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
würde jemals wissen, dass er überhaupt existiert hatte. Würden Helen und Sarah nicht sagen, dass ich mir wirklich alle Mühe gegeben hatte, Sebastian zu helfen? Würden sie nicht Verständnis dafür haben, wenn ich jetzt aufgab? In diesen flüchtigen Momenten sah ich eine andere Evie, die Hand in Hand mit einem Jungen mit strohblonden Haaren und ruhigen braunen Augen spazierenging und im Sonnenschein lachte …
Nein.
Ich riss meine Gedanken von dieser Vorstellung los. Sebastian hatte sich entschieden, sich in die Schatten zu begeben, aber ich würde ihm dorthin folgen und ihn zurück ins Licht bringen, auch wenn das momentan vollkommen unmöglich zu sein schien. Ich würde nicht aufgeben. Ich würde nicht müde werden.
Ich würde ihn nicht im Stich lassen.
Vierundzwanzig
Aus den persönlichen Unterlagen
von Sebastian James Fairfax
Wirst du deines alten Freundes müde? Ich habe dich gesehen, Evie. Du hast gelacht – gelächelt – und so wunderschön ausgesehen. Es tat so gut, dich so zu sehen; aber du hast nicht mich angelächelt.
Dein Lächeln galt einem großen Jungen mit maisblonden Haaren, und du hast so glücklich gewirkt. Als hättest du mich nie kennen gelernt.
Hast du mich bereits vergessen? Oder war dies nur eine weitere Grausamkeit, die meine Peiniger mir schickten, während sie Stunde um Stunde darauf warten, dass ich ihnen endlich in die Hände falle?
Das Ende kommt näher, immer näher.
Vielleicht war es verrückt von mir zu glauben, du könntest mir treu bleiben, wo ich doch denen, die ich liebe, nichts als Gefahr und Verzweiflung bringe.
Meine Eltern, meine Freunde – ich habe sie alle verächtlich behandelt und abgewiesen.
Die Frauen, die mir gedient haben, habe ich zerstört und dann verlassen.
Agnes, die ich mehr als alle anderen geschätzt habe,
meine teuerste Agnes, die ich wie eine Schwester geliebt habe — ich bin für ihren Tod so sicher verantwortlich, als hätte ich sie eigenhändig erwürgt.
Wie kann ich dann erwarten, dass du mir treu bist?
Alles entgleitet mir.
Alles verklingt im Nebel.
Hör zu, ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen. Du musst mir zuhören, mein Liebling, solange ich diese Worte noch mühsam formen kann. Hör zu …
Es kann immer noch sein, dass unsere Geschichte im Guten endet. Selbst jetzt gibt es immer noch ein Fünkchen Hoffnung, wie eine Kerze in einem Sturm. Eines Tages werde ich vielleicht gerettet werden. Eines Tages werde ich dich vielleicht von Angesicht zu Angesicht sehen. Dann werde ich es dir sagen – dann werde ich dir die ganze Wahrheit meines Herzens erzählen. Aber es ist auch eine Geschichte mit einem anderen Ende möglich. Ich habe bereits einen Blick darauf erhascht.
In dieser Geschichte wirst du entmutigt. Der Weg ist zu beschwerlich, und du wendest dich ab. Ein anderer ist an deiner Seite. Er schreitet in der von Leben er─ füllten Luft neben dir her, ein junger Mann mit braunen Augen und einem sonnigen Lächeln. Kommt dir diese Geschichte bekannt vor? Ist dies der Pfad, für den du dich entschieden hast?
Wenn dem so ist, mach dir keine Vorwürfe.
Dunkel … so dunkel … so müde …
Ich sehne mich nach dir. Ich kritzele Worte für dich auf Papier: »Mein Liebling, meine Liebste, Liebe, Sehnsucht ...« Aber diese Worte sind abgenutzt und verschlissen, sie stehen tausendfach auf abgedroschenen
Glückwunschkarten zum Valentinstag. Wie kann ich unsere Geschichte erzählen? Was kann ich sagen? »Wir sind eine Weile gemeinsam auf Erden gewandelt, und es war genug.« Welche Worte vermögen wirklich das Glück auszudrücken, das ich empfand?
Ich bin so müde; meine Kraft lässt nach.
Ich habe keine Worte, mit denen ich dir sagen könnte, wie sehr ich mich nach deiner Berührung und dem Duft deiner Haare sehne, nach dem vertrauensvollen Blick in deinen Augen. Aber ich muss dir eines sagen:
Wenn du dich entschließt, deine Gunst jemand anderem zu schenken, verstehe ich das. Ich werde dir niemals Vorwürfe machen, Evie. Alles, was ich jetzt für dich will, ist, dass du in der Sonne wandelst. Und wenn du dich in deinem neuen Leben jemals an Sebastian James Fairfax erinnerst, dann tue das mit einem Lächeln, nicht mit Tränen. Zu viele Menschen haben schon meinetwegen geweint.
Alles verblasst.
Meine Geschichte wird bald enden. Aber deine muss weitergehen, und dein Weg sollte mit allen erdenklichen Freuden gepflastert sein.
Fünfundzwanzig
E ine weitere freudlose Woche ohne Sebastian begann. Von der Sonne war an diesem
Weitere Kostenlose Bücher