Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
Morgen nichts zu sehen, keine Spur. In der Nacht hatte es erneut kräftig geschneit, und die Welt draußen war so kalt wie ein gefrorenes, geiziges Herz.
Ich schleppte mich mühsam aus dem Bett und trödelte im kalten Badezimmer herum, versuchte irgendwo ein bisschen Energie herzubekommen, um es mit dem Tag aufzunehmen. Mein Spiegelbild starrte mich an, es wirkte müde und ausgelaugt. Ich hatte den größten Teil der Nacht wachgelegen und mir viele, viele Gedanken darüber gemacht, wie ich lernen könnte, das Feuerelement zu beherrschen, ohne dass mir dabei irgendein Licht aufgegangen wäre. Ich seufzte, wickelte meinen Morgenmantel enger um mich und ging ins Schlafzimmer zurück. Als ich dort ankam, waren die anderen bereits unterwegs zum Frühstück.
Die Glocke ertönte warnend. Ich musste mich beeilen. Rasch griff ich nach meinem Rock und meiner Bluse und fing an, mich anzuziehen. Als ich mir das zur Schuluniform gehörende Halstuch umband, bemerkte ich, dass ich das goldene Medaillon mit Effies Locke nicht mehr trug.
»Oh, nein!« Hektisch durchsuchte ich mein Bett. Wie konnte ich es bloß verloren haben? War es mir im Badezimmer runtergefallen oder vielleicht draußen beim Reiten? Denk nach, Evie, denk nach … Ich traute mich nicht, die Mädchen zu fragen, ob eine von ihnen es gefunden hatte, aus Angst, dass Miss Raglan davon hören könnte. Sie würde mich zweifellos zwingen, es ihr zu geben, und mir wurde ganz schlecht bei der Vorstellung, dass sie irgendetwas angrapschte, das mit Agnes zu tun hatte. Ich ging die Treppe hinunter, wütend auf mich selbst, weil ich so nachlässig gewesen war, dass ich diese Verbindung mit meiner Vergangenheit verloren hatte.
Im Speisesaal ließ ich mich auf meinem Platz neben Helen und Sarah nieder. »Hast du schon gehört, was letzte Nacht im Dorf passiert ist?«, fragte Sarah.
»Nein. Was meinst du?«
»Es ist irgendwie seltsam, eigentlich sogar ziemlich schrecklich. Ich habe heute Josh bei den Ställen getroffen. Er hat mir erzählt, dass im Dorf ein toter Fuchs an eine Haustür genagelt wurde. Überall war Blut.«
»Aber das ist doch völlig …«
»Krank. Ich weiß; es ist widerlich. Und ich habe gehört, dass auch die Frauen in der Küche darüber reden.« Sarah senkte die Stimme. »Glaubst du, der Hexenzirkel könnte irgendwie dahinterstecken?«
Das alles hörte sich wie ein schrecklicher Voodoo-Zauber an. »Aber wieso sollten sie so etwas tun? Was soll das bedeuten? Was glaubst du, Helen?«
Helen zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Aber die sind zu allem fähig. Und aus einem toten Fuchs würden sie sich bestimmt nichts machen.«
»Es könnte auch etwas ganz anderes sein«, sagte Sarah. »Eine Streiterei im Dorf, gedankenloser Vandalismus, alles Mögliche. Josh denkt, dass es vielleicht etwas mit dem Zigeunerlager zu tun haben könnte.«
Josh war mir nicht gerade wie jemand vorgekommen, der auf das Getratsche und die Vorurteile gegenüber Zigeunern hörte.
»Wie kommt er auf die Idee, dass sie hinter der Sache stecken könnten?«, fragte ich empört.
»Nein! So hat er das doch gar nicht gemeint. Offenbar hatte derjenige, dem der Fuchs an die Tür genagelt wurde, sich dafür ausgesprochen, dass die Zigeuner auf diesem Fleckchen lagern können. Josh glaubt, hinter der Tat könnte jemand stecken, der diese Leute nicht in Wyldcliffe haben will. Als eine Art Ausdruck des Protests.«
»Oder um den Zigeunern die Schuld in die Schuhe zu schieben«, fügte Helen hinzu.
»Genau. Viele Leute haben etwas gegen die Roma. Gegen ihre Art zu leben. Sie halten sie für Diebe und Schmarotzer, die von Ort zu Ort ziehen und überall für Ärger sorgen. Das macht mich so wütend.« Sarah seufzte. »Ich wünschte, die Zigeuner würden erfahren, dass wir nicht alle so sind.«
Es schien, als würde in Wyldcliffe außer unserem noch ein anderer Kampf geführt, aber unsere Unterhaltung wurde unterbrochen, als Miss Raglan ins Zimmer kam. Sie trat auf die erhöhte Plattform, und zweihundert Mädchen erhoben sich schweigend. Miss Raglan blickte nicht auf, während sie mit gedämpfter Stimme das Tischgebet sprach.
»Amen … Amen …« Die beflissene Antwort hallte
durch den Speisesaal. Wir setzten uns wieder hin, und ich nahm mir Eier und Toast vom Servierteller. Sarah dagegen stocherte lustlos in ihrem Essen herum.
»Hör zu, Sarah«, sagte ich. »Wenn du willst, dann versuchen wir doch, zum Lager zu gehen und zu erfahren, was los ist.«
Ihr Gesicht erhellte sich.
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