Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
»Würdest du das wirklich tun?«
»Na klar«, sagte ich. »Sobald wir die Gelegenheit dazu haben. Versprochen.«
Nach dem Frühstück gingen wir durch die Eingangshalle zu unserer ersten Unterrichtsstunde. Harriet drückte sich beim Tisch herum und schaute die Post durch, die jeden Morgen für die Schülerinnen hier ausgelegt wurde. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit ich sie auf der Krankenstation besucht hatte, und sie blickte auf und lächelte verlegen, als wäre sie einerseits zufrieden und andererseits besorgt, mich zu sehen. So etwas wie Verzweiflung stieg in mir auf, und zum hundertsten Mal wünschte ich mir, sie hätte sich damals im Zug nicht neben mich gesetzt. Dann riss ich mich zusammen und zwang mich, freundlich mit ihr zu sprechen.
»Geht es dir besser, Harriet? Was macht dein Handgelenk? «
»Das ist schon viel besser, es tut nicht mehr so weh«, sagte sie und wedelte mir mit dem bandagierten Handgelenk vor der Nase herum. In der anderen Hand hielt sie einen großen, quadratischen Umschlag. »Der ist für dich.«
Ich nahm den Umschlag, und als ich mit meinen Fingern ihre leicht streifte, verspürte ich plötzlich ein Ekelgefühl, als hätte ich etwas Totes berührt.
»Ist es etwas Wichtiges?«, fragte sie.
»Was? Oh … nein, es ist nichts.« Ich schob den Umschlag in meine Tasche. »Es freut mich, dass es dir besser geht, Harriet. Bis später.«
Mein Herz machte einen Satz. Ich hatte die auf der Vorderseite aufgedruckten Namen schon gesehen: Carter, Coleman und Tallen. Ich kannte die Namen. Und ich war mir sehr sicher, dass ich wusste, was das alles zu bedeuten hatte.
Miss Raglan trat hinter uns. »Du solltest längst im Klassenzimmer sein und dich mit den Matheaufgaben beschäftigen, statt mit deiner Post«, sagte sie scharf. »Wir haben heute viel durchzunehmen, und es dauert nicht mehr lange bis zu den Klausuren. Also beeil dich bitte.«
»Ja, Miss Raglan. Tut mir leid, Miss Raglan.«
Der Brief würde warten müssen.
Sobald die Pausenklingel läutete, schnappte ich mir Sarah und lief mit ihr zu den Ställen. Helen hatte ein Problem, weil sie ihre Aufgabe nicht zufriedenstellend gelöst hatte, und musste bei Miss Raglan bleiben.
»Was ist los, Evie?«, fragte Sarah, als wir über den gepflasterten Hof zu Bonnys Stall eilten. »Von wem ist der Brief?«
»Von den Anwälten von Frankie. Es muss mit ihrem Testament zusammenhängen. Aber ich will ihr Geld nicht, oder etwas anderes in der Art. Wieso haben sie mir geschrieben und nicht Dad?« Sobald wir im Stall und somit einigermaßen geschützt waren, öffnete ich den Umschlag, aber ich kam nicht über die ersten paar Zeilen des Briefes hinaus:
Liebe Evelyn, wir schreiben Ihnen in Bezug auf Ihre verstorbene Großmutter ...
Ich wollte mit alldem nichts zu tun haben. Ich wollte nicht daran erinnert werden, dass Frankie nicht mehr da war. Mit einem Kloß in der Kehle reichte ich Sarah den Brief. »Lies du ihn«, sagte ich. »Bitte.«
»Liebe Evelyn«, las sie. »Ähm … dann steht da eine ganze Menge einführendes Blabla. Wer sie sind und so, aber das weißt du ja alles … Oh, warte, hier steht: ›Sie wissen vielleicht, dass Ihre Großmutter ein paar persönliche Sachen in einem Bankschließfach aufbewahrt hatte. Eine davon war an Sie adressiert. Ihr Vater als offizieller Verwalter des Testamentes hat uns die Erlaubnis gegeben, Ihnen diesen Gegenstand direkt zu schicken. Es handelt sich um ein Dokument, das wir gerne beilegen.‹ Und dann steht da noch, dass du bitte den Erhalt bestätigen sollst, viele Grüße und aufrichtiges Beileid, bla, bla, bla …«
»Also, was ist das für ein Dokument?« Ich war so nervös, dass mir regelrecht übel wurde. Im letzten Term hatte ich einen Brief erhalten, aus dem die Verbindung meiner Familie mit Agnes’ Tochter Effie hervorgegangen war – einen Brief, der mein Leben verändert hatte. Was würde dieses neue Dokument bringen?
Sarah zog ein versiegeltes, zusammengefaltetes Dokument aus dem Umschlag. »Das sieht richtig alt aus«, sagte sie und reichte es mir. Meine Finger zitterten, als ich das gelbliche Papier berührte und die kleine, geschwungene Schrift wiedererkannte. Mit verblasster schwarzer Tinte geschrieben stand da:
Ich bitte meine Tochter, dies ungelesen an ihre Tochter weiterzugeben, und so fort, bis das Mädchen mit den roten Haaren und den grauen Augen – das Mädchen vom Meer – ihn schließlich erhalten wird. Ich bete, dass alles so geschieht, wie ich es
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