Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
mich ermutigend an, und ich konnte nicht anders als zurückzulächeln. Wir machten uns langsam wieder auf den Rückweg zur Schule. Lange, purpurrote Schatten krochen über den Boden. Josh erwähnte das Medaillon nicht mehr, sondern erzählte von seiner Familie und vom Reiten und von seinen Studienplänen. Er fragte auch nach meiner Familie. Irgendwie war es leicht, ihm von Mom und Dad und Frankie zu erzählen, und wie sehr ich sie vermisste. Wir standen unter
den schneebeladenen Tannen und unterhielten uns leise, und als wir schließlich wieder zu den Ställen zurückkamen, war es fast dunkel geworden. Die Mädchen, die im Schnee gespielt hatten, waren jetzt weg.
»Wo warst du, Evie?« Das war Sarah, die unruhig auf mich wartete. »Wir wollten nach deiner Reitstunde in die Bibliothek gehen. Hast du das vergessen?«
»Tut mir leid, es war meine Schuld«, sagte Josh.
»Nein, es ist meine«, sagte ich. »Ich hätte daran denken müssen.« Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte ich ein schlechtes Gewissen. Wie hatte ich vergessen können, dass Sarah und ich uns verabredet hatten, um eine weitere Ecke in der Bibliothek nach dem Buch abzusuchen? »Lass uns jetzt gleich hingehen. Wir haben noch Zeit bis zum Essen.«
»Natürlich«, sagte Sarah gelassen. »Gute Nacht, Josh.«
Als sie sich umdrehte, sah ich den Schmerz in ihren Augen. Und ich wusste mit dem klaren Instinkt, den auch Sarah besaß, dass sie anfing, die Hoffnung zu verlieren, dass sie jemals diejenige sein würde, die mit Josh im Zwielicht spazieren ging.
Neunundzwanzig
Aus den persönlichen Unterlagen
von Sebastian James Fairfax
Wie viele Tage und Nächte kann ich hier noch aushalten, bevor ich ergriffen werde?
Früher habe ich diesen Ort gehasst, habe ihn als Ge─ fängnis empfunden, aber seit du da warst, scheint dein Geist in diesen Mauern herumzuspuken. Es gibt keinen Ort, an dem ich jetzt lieber wäre.
Wie rätselhaft die Liebe ist! Größer als Stürme und Reichtum und Wissenschaft und Kriege.
Als ich in diesem Haus gelebt habe, habe ich keinen einzigen Gedanken an Liebe verschwendet. Ich stand über solchen schwachen Fantasien. Ich habe Agnes nicht geliebt. Ich habe nur ihre Schönheit und ihre Macht begehrt – aber du kennst alle meine beschämenden Geheimnisse. Du vergibst alles.
Meine Eltern haben mich geliebt, aber ich konnte mit ihren Regeln und Konventionen nichts anfangen. Ich habe immer weiter versucht herauszufinden, was für Menschen sie wirklich waren. Mein Vater war mit seinen Ländereien beschäftigt, mit seinen Pferden und seinen Hunden. Meine Mutter war schön, aber ich habe
niemals hinter ihre Schönheit geblickt. Ich habe mich nie gefragt, wieso sie einander eigentlich geliebt haben, oder ob sie einander brauchten, oder wie sie miteinan─ der sprachen, wenn sie allein waren.
Haben sie füreinander jemals das empfunden, was ich dir gegenüber empfinde? Hätte mein Vater sein Leben für meine Mutter gegeben, wie ich mein Leben für dich hergeben werde?
Ich werde es tun. Ich werde verblassen und vergehen, damit du leben kannst. Und doch kriecht die Verführung aus allen Ecken in meinen Verstand, denn ich weiß, dass es einen Weg gibt, das zu vermeiden, was mir bevorsteht. Es gibt einen Weg. Aber dieser Weg würde dich zerstören. Er würde dich töten.
Ich habe dir gesagt, dass du den Schatz, den du bewachst, verstecken sollst, damit ich nicht durch ihn verführt werden kann. Ich habe geschworen, den Talisman nicht zu berühren, nicht einmal, falls er mir zu Füßen liegen sollte, wenn es zur Bedingung hätte, dir ein Haar – auch nur ein einziges deiner wunderschönen Haare – zu krümmen.
Komm nicht zurück. Du darfst nicht zurückkommen …
Aber ich habe mich nicht verführen lassen. Nein, das habe ich nicht getan. Ich begehre den Talisman nicht.
Du sagst, dass du ihn benutzen willst, um mich zu heilen; dass du das Buch suchen wirst; dass du alles tun wirst; dass du mich retten wirst. Oh, Evie, süße Evie, ich glaube nicht mehr daran. Es ist zu spät, und alles verblasst, alles entgleitet mir – selbst du.
Wenn ich erst gegangen bin, wirst du die Einzige sein,
die um mich trauert. Die anderen Seelen, die so gütig waren, Zuneigung zu Sebastian Fairfax zu empfinden, haben dieses Tal bereits verlassen. Nur die wilde Bruderschaft, mit der ich einst geritten bin, wird sich viel─ leicht an mich erinnern – ja, sie könnte sich erinnern. Aber warum sollte sie das tun? In all den vielen Jahren habe ich nicht
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