Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
entdeckte einen kleinen Glasbecher, der halb unter all dem Krimskrams verborgen auf
dem Schreibtisch stand, und bat Sarah, ihn mir zu geben. Der Becher war leer. Ich legte meine Hände um ihn und schloss die Augen. Dann griff ich in meinem Geist nach dem stillen, geheimnisvollen See bei der Ruine. Einen Moment lang war ich wieder dort und schwamm mit Sebastian im kühlen Wasser. Mein Körper umschlang den seinen, und ich schmeckte seine feuchte Haut an meinen Lippen.
Das Wasser unserer Adern ... die Flüsse unseres Blutes ... das Wasser des Lebens ...
Als ich die Augen wieder öffnete, war bis obenhin Wasser in dem Glas, so kühl und rein wie geschmolzenes Eis.
Ich benetzte Sebastians Lippen, dann wusch ich ihm so sanft, wie ich konnte, das Gesicht. Einen Moment lang leuchteten seine Augen klar und blau und blickten mir direkt ins Herz. Wir klammerten uns aneinander und küssten uns, als würde unser gemeinsames Leben gerade erst beginnen, statt sein Ende zu finden.
»Evie, es ist Zeit«, hörte ich Helen sagen. »Wir müssen gehen.«
Ich riss mich aus Sebastians Umarmung los. »Ich komme wieder.«
»Du darfst nicht wiederkommen«, rief er. »Nicht, wenn du mich nicht richtig heilen kannst. Ich will nicht, dass du mich siehst, wenn es zu Ende geht. Versprich es mir, Evie; erfülle mir diesen Wunsch. Komm nicht zurück.« Er wurde heftiger. »Du musst es mir versprechen, du musst das tun!«
»Ja, ja, in Ordnung«, stammelte ich. »Ich verspreche es dir.«
Er wirkte besänftigt und hob mit großer Anstrengung meine Hände an seine Lippen. »Dann soll dies unser Abschied sein, Mädchen vom Meer«, sagte er stockend. »Dann soll dies meine letzte Erinnerung an dich sein, bevor ich alles verliere.«
Aber das würde ich nicht zulassen. Während Helen mich sanft von Sebastians Seite zog, wusste ich, dass ich noch nicht bereit war, Lebewohl zu sagen.
Achtundzwanzig
D ie Zeit lief uns davon. Die silberne Uhr, die Sebastian vor seinem Versteck fallen gelassen hatte, tickte leise in meiner Tasche. Ich hatte ihn gefunden, aber das genügte nicht. Der Augenblick war vergangen, und jetzt war die Zeit ebenso mein Feind wie die Schwestern der Dunkelheit und ihre verschollene Anführerin. Ich fürchte, beim nächsten Neumond werde ich kein Mensch mehr sein …
Jeder Tag, jede Stunde war kostbar, was die Suche nach dem Buch anging, und ich reagierte ungeduldig auf alles, das sich dieser Suche in den Weg stellte. Wir hatten heimlich fast jeden Band in der Bibliothek untersucht, aber nichts gefunden. Zeit … Zeit … Zeit … Die Tage flogen unablässig dahin, und eine weitere Woche wurde zur Vergangenheit.
Als der nächste Sonntagnachmittag mit seinen wenigen kostbaren freien Stunden kam, machte ich mich zögernd auf den Weg zu den Ställen. Ich hatte einen Brief von Dad erhalten, in dem er sich nach meinen Reitstunden erkundigte. Um seinetwillen fühlte ich mich verpflichtet, damit weiterzumachen, aber es kam mir wie Zeitverschwendung vor. Ich könnte nach dem Buch suchen; ich könnte etwas Nützliches tun , dachte ich aufgebracht, während ich Bonnys Sattel vom Gestell nahm.
»Ich glaube, das hier gehört dir.«
Josh kam in die Sattelkammer und reichte mir ein kleines Päckchen. Mir sank der Mut. Ich wollte nichts von Josh. Das, was er mir schenken wollte, konnte ich nicht annehmen. Aber es wurde allmählich schwierig, das Leuchten in seinen Augen zu ignorieren, wenn er mit mir sprach, oder Sarahs verletzten Gesichtsausdruck, wenn sie uns zusammen sah. Er bedeutet mir nichts , hatte ich zu Sebastian gesagt, und obwohl ich es auch so gemeint hatte, schämte ich mich wegen meiner Herzlosigkeit. Ich war nicht die Einzige, die Gefühle hatte. Ich versuchte, meine eigenen Sorgen für einen Moment zu vergessen.
»Danke, Josh. Das ist toll.«
»Ich glaube nicht, dass es heute mit der Reitstunde was wird«, sagte er. »Der Boden ist so gefroren, dass die Ponys ausrutschen könnten.« Starker Frost hatte nicht nur den Schnee in hartes, festes Eis verwandelt, sondern aus der ganzen Schule einen verzauberten Palast aus weißen Giebeln und glitzernden Türmchen gemacht.
»Okay, kein Problem«, sagte ich, insgeheim erleichtert.
»Willst du das Päckchen nicht aufmachen?«
Ich fummelte an dem braunen Papier herum, und etwas Hartes, Leuchtendes fiel mir in die Hand. Im ersten Moment erkannte ich es nicht, aber dann begriff ich. Es war das kleine Medaillon von Uppercliffe, liebevoll poliert, so dass es jetzt wie der Schatz
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