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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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Geräusch der Hausschellen zu verwechseln war, rief Ginster seine Kinderkrankheiten ins Gedächtnis zurück. Damals hatte er im Bett gern den Knopf der Tischglocke gedreht; eigentlich mehr aus Lust am Drehen, als um die Mutter zu rufen. Die ausgediente Glocke war seitdem kaum noch benutzt worden. »Der Onkel will dich sehen«, sagte die Tante, »aber bleibe nicht lang.« – »Ich möchte allein mit ihm sein«, erklärte Ginster und überwand seine Angst. Er setzte sich aufs Bett zum Onkel, nahm seine Hand und spürte, ohne recht hinzublicken, den hageren Körper. Die Vorhänge waren halb heruntergelassen, auf einem Teetischchen lagen Bücher. Das Tischchen war nur eines von vielen, die ineinander geschoben werden konnten. Der Onkel flüsterte. Wie die alte Glocke, dachte Ginster und bemühte sich, oberflächlich zu sein.
    »Ich bin sehr glücklich«, sagte er, »daß es dir besser geht. Jetzt ist auch deine Arbeit zu Ende, und du kannst in Ruhe den Druck überwachen.«
    Der Onkel lächelte, ein richtiges Lächeln, das, so leicht es war, die Faltenzüge bewegte. »Du ahnst nicht, wie gleichgültig mir die Arbeit ist. Später wirst du sie einmal lesen und an den alten Onkel denken …«
    Ginster lauschte; streichelte die Hand. In den Falten die Haare.
    »Weißt du« – der Onkel richtete sich etwas auf –, »die Tante hat mir in den Jahren immer geholfen. Sie soll dann die Korrekturen lesen … Deine Mutter ist eine Pflegerin, Tag und Nacht auf dem Posten. Bald sind sie mich los …«
    »Sprich nicht so viel, Onkel.«
    »Mit deinem Vater habe ich mich nicht verstanden, du weißt ja, wie schwierig er war. Aber er war ein guter Sohn und mein Bruder. Wir sind arm gewesen, und damit ich studieren konnte, ist dein Vater Kaufmann geworden. Dein Großvater ist früh gestorben, und die Mutter war mit uns fünf Geschwistern allein. Ich habe Privatstundengegeben. Im Sommer bin ich aufs Feld gegangen, nein, auf die Wiese … Erzähle drüben nichts von dem, was ich dir sage.«
    Der Onkel legte sich zurück und schloß die Augen. Im Nebenzimmer wurde gesprochen. Das oberste Buch war ein kleiner kunstgeschichtlicher Leitfaden, der, wie sich Ginster genau entsann, die verschiedenen Baustile enthielt. Um die Stile ohne Mühe wiederzufinden, hatte sie der Onkel mit Bleistift unterstrichen. Jetzt hob er den Arm und fuhr über Ginsters Jacke. Es war der linke Arm, nein, der rechte; die Unteroffiziere mußten umgekehrt kommandieren.
    »Ich habe dich immer sehr liebgehabt, du weißt es doch, nicht wahr. Versprich mir, tüchtig zu arbeiten. Du bist jung, und es ist etwas in dir … Mache kein solches Gesicht … Mein Taschentuch –«
    Die Mutter rief Ginster ins Wohnzimmer und blieb selbst beim Onkel. »Wie findest du ihn?« fragte die Tante. Ginster antwortete nicht. »Er hat ganz den Krieg vergessen«, sagte er zerstreut. Die Tante erzählte, daß der Krieg schon seit einiger Zeit nicht mehr ins Haus dürfe. »Aber er frißt den Kummer in sich hinein«, fuhr sie fort, »neulich hörte ich ihn im Bett weinen, und dann die schlechte Ernährung …« Auf den Wunsch der Mutter packte Ginster rasch sein Köfferchen aus. Als er zurückkehrte, saß Frau Biehl in der Stube und machte vergrößerte Augen. Das Haar der Mutter war grauer geworden, in den Sommerfrischen hatte man sie immer für seine Schwester gehalten. Die Wohnung räkelte sich. Der Arzt brach ein, Ginster kannte ihn schon aus der Tischglockenzeit, mit seinem runden Gesicht, vor dem die Erkältungen sich wie folgsame Haustiere verkrochen, ohne daß er Gewalt wider sie anzuwenden brauchte. Manche Zimmerkrankheiten wurden auch durch die endlosen Gespräche geheilt, die er über Ferienreisen oder das Opernhaus führte. Während des Plauderns vergaßen die Beschwerden sich selbst und erloschen. Verschlimmerten sie sich, so geschah es gegen seinen ausdrücklichen Willen, auf dem er freilich nicht eigensinnig bestand. Aus einem natürlichen Wohlwollen heraus ließ er vielmehr die Leiden ruhig gewähren und redete ihnen höchstens zu, sich wie ein Unwohlsein zu benehmen. Sogar in den Verstorbenen erweckte er stets das Gefühl, daß sie nach wenigen Tagen wieder aufstehen könnten. Ob er mich noch mit Du anreden wird, fragte sich Ginster auf dem Vorplatz. Die Schlafzimmertür wurde geöffnet, der Arzt stand am Bett. »Ausgezeichnet«, versicherte er, »das Befinden hat sich erstaunlich gehoben.« Er verabschiedete sich; mit Sie. »Der Dummkopf«, sagte der Onkel vernehmlich, der Arzt

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