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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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Jugendfreund gemeinsam verlebten Jahre; beide ganz wissenschaftlich und schon auf der Universität eng verbunden. Ein Teil des Glanzes war vermutlich der räumlichen Entfernung zwischen ihnen zu danken, jedenfalls hatte der Onkel nur selten Lust bezeigt, sie zu tilgen. Da die verschiedenartigen Trauergefühle eine schlechte Mischung ergaben, nötigte die Tante den Jugendfreund ins Studierzimmer hinüber. Die Angehörigen erschlossen den hohen Grad seiner Gelehrsamkeit aus den ungebügelten Hosen, die sie absichtlich nicht bemerkten. »Gewandt bist du nicht«, sagte der Schwager zu Ginster. Die Wohnung war öffentlich geworden und klapperte nachts. Der helle Vormittag paßte gar nicht zur Beerdigung, allerdings war ein leichter Frost eingetreten. In der Friedhofshalle stand Ginster zwischen den verlängerten Onkels, die oben und unten schwarzen Spiegeln gleich das Licht reflektierten. Er umkreiste unablässig sein Schützenhütchen, niemand sonst trug ein Hütchen. Echter Schmerz war der Gestalt nach zylindrisch. Während die Leute wie Kondolenzkärtchenvorübermurmelten, machte er sich klar, daß er ein Hinterbliebener sei, und murmelte ebenfalls. Die Feierlichkeit preßte ihm Tränen ab, gegen die er sich sträubte, denn der Geistliche benutzte die Kriegspause nur dazu, um nach dem Himmel zu schießen, und dann fing das gewöhnliche Militär wieder an. Auf einem Unterseeboot entglitt Ginster durch das gewichste Zylindermeer. Drei Schaufeln Erde. »Eine außerordentliche Beteiligung«, erzählten die Onkel zu Hause und rühmten die Rede; wirklich andächtig in der Höhe und doch eigentlich schlicht. Beim Essen legten sie sich so viel auf, als seien sie von der Höhenluft angegriffen, hatten aber aus Zartgefühl nicht den mindesten Appetit. Die Geschäfte waren wieder eröffnet. »Ich kann euch mehr von dem Fleisch schicken«, erklärte Tante Rosa. Der Jugendfreund ging in dem Lärm unter; zwölf Stunden von hier, noch aus der Jugend. Stumm saß er neben der Tante, die zu seiner Zerstreuung den Krieg bejammerte. Übrigens war ihr Ton manchmal auch weinerlich, wenn sie gleichgültige Gegenstände erörterte. Die Betrachtungen quollen über und tropften dann. »Eure Miesmacherei in der Provinz«, schrie der Schwager, »richtet uns zugrunde. Durchhalten: etwas anderes gibt es jetzt nicht.« Um jeden Preis, ergänzte Ginster im stillen. Vom Durchhalten angeregt, gab der eine Bruder ein paar Militärwitze zum besten, die Heiterkeit weckten. Sogar die Tante mußte lächeln. »Mein Mann …«, sagte sie, die Mutter verschwand in der Küche. Ginster glaubte, durch einen Guckkasten zu sehen, in dem der ausgezogene Tisch mit den Verwandten wie ein winziges Stereoskopbild erschien. Dabei hatten sie alle den Onkel geliebt. Gleich nach dem Essen verabschiedete sich der Jugendfreund. Die schlechten Verbindungen, hoffentlich bald wieder einmal.
    »Sehr traurig ist er gar nicht gewesen«, meinte Ginster zur Tante.
    »Weil er selbst noch lebt. Alte Leute trauern nicht mehr so tief.«
    Die Onkel stießen Rauchwolken aus und wackelten unruhig im Zimmer hin und her; wie die Eisbären im Zoologischen. Ihrem leise geführten Gespräch entnahm Ginster, daß sie den Kaffee im Hotel trinken wollten. Sie hatten sich seit Jahren nicht getroffen und freuten sich auf ein Plauderstündchen, bei dem sie weiter durchhalten konnten. Einer besaß eine Fabrik. »Geht nur«, nickte die Tante. Vor dem Aufbruch bemächtigte sich ihrer noch einmal eine besondere Rührung, die aber von den Paletots erstickt wurde, in denen sie sich eilig entfernten. Beliebige Herren, unterwegs hätte sie Ginster mit anderen Überziehern verwechselt. Der Schwager war Unteroffizier gewesen. Die Mutter erlaubte nicht, daß Ginster sich anschloß, obwohl er gern ins Hotel gefolgt wäre. »Heute wenigstens …« Aber morgen sollte er wieder nach Q. Er hatte Angst vor Q. und mochte dorthin nicht unmittelbar aus der Wohnung zurückkehren, in der die Trauer jetzt erst richtig einzuziehen begann, mit ihren tausend Paketchen und Schachteln, die noch unausgepackt umherlagen und alle Räume erfüllten. Auf einem Eßzimmerstuhl, der nicht an seinem Platz stand, ruhte die Mutter sich aus. Sie brütete hochrot, ohne daß die weit offenen Augen sich bewegten. Ein Falter, der mit einer Stecknadel aufgespießt war. Die Tante trug Sachen von einem Zimmer ins andere und sprach vor sich hin. Endlich ließen sie Ginster außer Haus, er mußte aber versprechen, seinem Vorsatz gemäß auch

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