Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
Vom Netzwerk:
doch mehr für Durchreisende berechnet. Einmal vertiefte sich Ginster in das Funkeln und meinte sich dann wie ein Kreisel zu drehen. Draußen war er geblendet, als käme er aus farbigen Wäldern. In das Läuten der Kirchenglocken klingelte die Trambahn hinein. Wenn sie überhaupt fuhr, mußte sie an einem bestimmten Punkt auf den Wagen aus der entgegengesetzten Richtung warten, der sich gewöhnlich verspätete. Oft prallte sie von den Fachwerken zurück; freilich hatten die Einwohner auch keine Eile. Ihre Bedächtigkeit hing möglicherweise schon mit der Nähe des Meeres zusammen. Unterhielten sie sich, so schienen sie wie die Trambahn eingleisig miteinander zu verkehren. Auf der Straße gemahnten sie an Fischerbilder. Zwei oder drei Fischer stehen vor ausgespannten Netzen und rauchen. Um so munterer waren die Kinder, eine Menge hellblonder Jungen und Mädchen, die in einem fort ahnungslos hüpften. Ginster begriff nicht, wie sie sich später so verlangsamen konnten. Tatsächlich hatte das Hüpfen nur in einem einzigen Falle zu einem gewissen Erfolg geführt: in dem Falle eines Historikers aus dem vorigen Jahrhundert, den die Stadt an allen Ecken ihr eigen nannte. Er gehörte ihr so ganz zu, daß man ihn außerhalb kaum kannte. Ihn stellte das Denkmal auf demRathausplatz dar, ihm war eine Ringstraße mit Bäumen gewidmet. Nach den Gedächtnistafeln zu schließen, war er in mehreren Häusern geboren. Um ihm nicht immer zu begegnen, beschloß Ginster an einem Samstagnachmittag mit Wenzel auszugehen, der ihn schon wiederholt vergeblich eingeladen hatte. Der Weg führte über ein Feld nach dem andern. Wenzels Frau war eine Schatulle, der ein paar von den hellblonden Kindern entsprangen, die fortwährend vorausliefen und wieder zurückkehrten. In der Zwischenzeit verdoppelten sie sich manchmal. Während des Gehens knöpfte Wenzel, der auch den Bauch an dem Marsch teilnehmen lassen wollte, die Weste auf. Seine Hosenträger waren leicht lila getönt. Da ihn die Ländlichkeit ihrer mangelnden Kanalisation wegen nicht befriedigte, zog er gesprächsweise den Stadtbaurat hervor, den er immer bei sich trug. Ginster, der sich ebenfalls anstrengte, gesellig zu sein, war froh, daß ihm Kamillen einfielen, denn die Frau beschäftigte sich viel mit hygienischen Kräutern. Rast gemacht wurde in einem Forsthaus, in dem sie die mitgebrachten Stullen auswickelte. Ganz bescheiden, aber bitte, gerne gegeben, wir haben nicht mehr. Vor lauter Genügsamkeit wäre sie fast geplatzt. Auf dem Heimweg forderte Wenzel Ginster zum Besuch eines regelmäßigen Skatabends auf, bei dem auch der Schlachthausdirektor stets anzutreffen sei. Die Erklärung Ginsters, daß er sich nicht auf Spiele verstehe, wurde als Ausflucht betrachtet. Völlig ausgeschlossen, jeder Mensch spielte. Zuletzt schämte er sich selbst seiner Unfähigkeit. Der Schlachthausdirektor schrieb sich vermutlich auf Reisen ins Fremdenbuch als Direktor ein, man sah ihm ja auch aus der Ferne die Tiere nicht an. Vor der Haustür krochen die Kinder in ihre Schatulle, das älteste spielte sicher bereits. »Einmal, keinmal«,sagte Wenzel zum Abschied. Ginster war der gleichen Ansicht und begab sich darum öfters in ein größeres Buchgeschäft, das an der Hauptstraße lag. Die Bücher im Laden wurden von einem Mädchen bedient, dessen Haare sich schneckenförmig über den Ohren wanden; wie Blätterteigstücke im Frieden. Obwohl der Raum gut erwärmt war, schien Elfriede – so hieß, wie sich später herausstellte, das Mädchen – immer zu frieren, wenigstens hatte sie ein Batiktuch um sich geschlungen, auf dem Gräser zerflossen. Wenn sie, vor den Regalen stehend, die dünne Hülle höher zupfte, hatte Ginster den Eindruck, als zöge sie sich in eine eben erst geschaffene Wiese zurück, um die Sonnenstrahlen auf sich zu lenken. In der Nähe des Wiesenrains merkte er bekümmert, daß sein Überzieher an den Taschen abgeschabt war. »Durch deine Aktentasche werden alle Stoffe zerrieben«, hatte die Mutter gesagt. Wäre es nach ihr gegangen, so hätte er überhaupt keine Mappe getragen, aber er entbehrte sie nur ungern, weil sich schwer voraussehen ließ, ob er ihre Inhalte unterwegs nicht doch noch gebrauchte. Die kalte Jahreszeit näherte sich ja überdies ihrem Ende. Einstweilen suchte er im Laden die Taschen nach Möglichkeit zu verdecken. Ab und zu erhob sich Elfriede aus der Wiese und verschwand in einem unsichtbaren Nebenraum, wo sich offenbar der Besitzer befand. Da er sich nie zeigte,

Weitere Kostenlose Bücher