Ginster (German Edition)
hatte es sicher gehört. Nun fährt er in seinem Wagen davon, dachte Ginster. Es wurde dämmrig, sie saßen alle im Schlafzimmer mit grünen Gesichtern. Das Grün rührte von dem Leseschirm her, der die Nachttischlampe umgab. Sonst leuchtete sie rot. Frau Biehl bewunderte das runde Aussehen des Arztes, das sie in der Gewißheit bestärkte, daß der Onkel ihr bald wieder erklären dürfe. Der Onkel nickte ihr zu. Aus der Dunkelheit war Frau Luckenbach aufgetaucht. Sie hatte vor der Ehe regelmäßig im Haus verkehrt und hing sehr am Onkel. Jetzt schweifte sie in die Mädchenjahre zurück und erzählte Geschichtchen von ihrer Großtante, einer bösen Familienperson, die zum Glück nicht mehr lebte. Wäre Frau Luckenbachs Mann zugegen gewesen, so hätte er sie an die Leine genommen, denn er duldete nicht, daß sie zu ihren Erinnerungen entlief. Übrigens kannte jeder die Geschichten, da sie schon oft aufgefrischt worden waren;stets mit denselben Worten, wie Märchen. »Das Suppenfleisch«, sagte der Onkel. Als Ginster klein war, hatte ihm die Großtante einmal besonders zähes Suppenfleisch vorgesetzt. Wenn ich erst groß bin, hatte er dann nach dem Essen geäußert, werde ich Jäger, aber Suppenfleisch schieße ich nicht. Alle lachten. Der Onkel sah Ginster an und drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. Die Mutter drängte sämtliche Besucher zum Schlafzimmer hinaus. »Ich werde dir noch etwas vorlesen«, meinte die Tante am Bett und schlug das Buch auf, einen dicken Roman. Es war leer in den Zimmern. Wie die Mutter flüsternd mitteilte, schlummerte der Onkel ein wenig. Gleich nach dem Abendbrot begab sich Ginster zur Ruhe, konnte jedoch vor Übermüdung nicht schlafen. Er belauschte heimlich die Wohnung; als sei er in sein früheres Militärkistchen gepreßt. Das Telegramm gestern in Q. – trotz der Nachricht hatte er sich auf die Bahnfahrt gefreut. Nur einmal fort und wieder im Zug. Zum erstenmal war heute der Onkel in seine Kindheit gestiegen, was wollte er mit der Wiese, sein Geist schien etwas verwirrt. Auch die Mutter hatte ihre Jugend gehabt, lauter verborgene Kinderjahre, um die er nicht wußte, und es ging immer noch weiter zurück, wie bei einer Schreibtischschublade von unermeßlicher Tiefe. Vergeblich suchte Ginster sie aufzureißen. In Familienbeziehungen fand er sich überhaupt nicht zurecht, die entfernteren Verwandtschaftsgrade waren viel zu verwickelt. Wie hing zum Beispiel die Großtante mit ihm zusammen. Um dem Pochen in seinem Kopf auszuweichen, mußte er sich äußerst behutsam voran schlängeln. Plötzlich erkannte er, daß er seinen eigenen Stammbaum verfolgte. Häufig genug hatte er in alten Büchern die Stammbäume betrachtet, die sich nach oben künstlich verzweigten. Offenbar war noch unbemerkt geblieben, daß sie sich in Wirklichkeit abwärts senkten und eigentlich Stammwurzeln hätten genannt werden sollen. Sie rochen nach Erde und mündeten in eine versteinerte Landschaft, die sich vor Ginster einer Reliefkarte gleich dehnte. Vor langen Jahren war ihm vom Onkel ein ganzer Reliefatlas geschenkt worden, in dem er sich gern über die erhabenen Alpen hinweggetastet hatte. Taumelnd verließ er die große Umwelt – er hatte vermutlich zu wenig gegessen – und wandte sich im Flug der entgegengesetzten Seite zu, aber der riesenhohe Krieg stieß ihn zurück. Da lag er und konnte sich nicht mehr regen. – Das Pochen kam wieder. Noch dunkel, sechs Uhr. Ginster wußte: der Onkel ist tot. Im Nachthemd auf den Flur. Die Mutter hatte den Schlafrock übergeworfen. »Kurz nach fünf …« sagte sie. Ihr Haar war ein unentwirrbarer Knäuel von Garnresten, der rote Kratzer saß fest auf der Backe. Angekleidet, auf und ab, Trambahnen, Fußgänger, das Mädchen von oben. Die Tante hatte das Aussehen einer Nachtpuppe, die abwesend auf dem Sofaplatz verharrte; als ob man bei Tagesanbruch sie wegzuräumen vergessen hätte. »Der Onkel …« Der Kaffee lief in die Tassen. Später, es mußte sein, ging Ginster ins Schlafzimmer zur Leiche. Sie gab den Onkel mit einer Genauigkeit wieder, über die er erschrak, nur schien das Gesicht etwas kleiner, als es früher gewesen. Der zarte Dunst hatte sich verflüchtigt, in dem es noch gestern geborgen war. Seine übertriebene Deutlichkeit verwandelte das Gesicht in einen Gegenstand, den Ginster fühllos verließ. Bei einem solchen Ereignis, fiel ihm ein, hört der Geschlechtstrieb ganz auf. Tante und Mutter hatten schon Trauer angelegt, wo kamen in der Eile die Kleider her.
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