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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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So unversehens sammelten sich auch vor Weihnachten die Tannenbäume an. Allerdings war jetzt Krieg. Aus der Wohnstube zogen sie ins Eßzimmer, das nur selten benutzt wurde. Es war ein tiefer, dunkel getäfelter Raum, der zu viele Kohlen verschlang. Beinahe wie eine Diele, die Geräusche verhallten in ihm. An der Längswand erhob sich das Renaissancebüfett, eine schloßartige Behausung, die den Anfängen der Ehe entstammte. Zwar diente sie noch der Aufbewahrung des Silbergeschirrs, aber ihre Stilschönheiten wurden nicht mehr beachtet. Das Tageslicht drang auch nur mühsam bis zu den Pilastern. »Wir müssen sehen, daß wir Fleisch beim Metzger bekommen«, sagte die Tante. Frau Biehl umwob sie wie eine Hülle, als es draußen leise zu poltern begann. Ginster wollte zur Tür, die Mutter hielt ihn zurück. Ganz allein wird er aus dem Haus getragen, dachte Ginster. Statt Er hätte man ebensogut Es sagen können. Die Tante ließ sich ihr Bett im Wohnzimmer aufschlagen und nahm abends ein Schlafpulver zum Tee. Am andern Tag trafen die Verwandten ein: der Schwager der Tante aus Berlin – er war ein Jahr in der Etappe gewesen – und die zwei Brüder mit ihren Frauen. Die Männer waren Kaufleute in Positionen, die sich völlig schwarz angestrichen hatten und nun den Eindruck erweckten, als seien sie wegen Geschäftsaufgabe geschlossen. Wie es geschehen sei, alles so plötzlich, aber doch eine Erlösung. Ginster kannte die Angehörigen hauptsächlich aus ihren Briefen, die von der Mutter immer mit Spannung erwartet wurden. Da sie ihm wiederholt versichert hatte, daß ihn die Briefe kaum interessierten, las er sie freilich nie. Eine der Tanten erregte übrigens durch ihre Schreibfaulheit häufig Verdruß. Sie schrieb einfach nicht, und wenn Wochen verstrichen. Zu träge; man ängstigte sich doch. Die Onkel schimmerten als Familienmitglieder durch die gut sitzenden Anzüge hindurch. Das Leben, der Tod, im allgemeinen vergänglich – lauter Einblicke von innen, um derentwillen sie auch vorläufig nicht rauchten. Tante Rosa hatte ein paar Pfund Fleisch mitgebracht. »Eine neue Quelle«, sagte sie gedämpft und wandte sich im gleichen Augenblick dem Verstorbenen zu. Ihre Gespräche wechselten fortwährend den Gegenstand, aber sie sprang nicht etwa vom einen zum andern, sondern die Gegenstände selbst jagten in rasender Eile an ihr vorbei. Wie Blitzzüge an einer kleinen Station. Einsteigen und mitfahren konnte sie nicht. Wenigstens reichte das Essen morgen, der Metzger hatte die Tante im Stich gelassen. »Daß er seine Arbeit abschließen durfte«, meinte der eine Bruder, »hat ihm sicher vor dem Ende Befriedigung gewährt.« Obwohl der Bruder die Arbeit für zwecklos wie eine Sommerfrischenbeschäftigung hielt, erkannte er sie widerwillig an, weil sie ein gedrucktes Ansehen genoß. Außerdem gab es eben auch höhere Dinge. Sie trösteten sich mit dem rechtzeitigen Abschluß und betrachteten ihn gewissermaßen als Fügung. Später gingen die Onkel auf und ab; in jedem Zimmer Familie. Als sie im Eßzimmer wieder zusammensaßen, fiel der Mutter ein, daß Ginster keinen Zylinder besaß. Sämtliche Verwandten bestürzt: ein junger Mann ohne Zylinder. »Natürlich bei euch in der Provinz …«, fuhr der Schwager auf, den die Länge der Trauer schon reizte. »Er steht mir aber doch nicht«, verteidigte sich Ginster. Die Mutter holte den Zylinder des Onkels, über den der Schwager die Achseln zuckte. Vor zehn Jahren modern. Ginster setzte ihn dennoch auf; nach einstimmigem Urteil unmöglich. Zum Glück erinnerte sich die Mutter noch eines dunklen Schützenhütchens, das seit Ewigkeit im Kleiderschrank aufbewahrt wurde. Wem es ursprünglich gehört hatte, war ihr entfallen. Der Schwager formte den Hut und drückte ihn Ginster fest in die Stirn. »Behalte ihn nur schon auf.« Um unter allen Umständen recht zu haben, ereiferte er sich auch im Falle der Zustimmung so heftig, als werde ihm widersprochen. Lieber hätte Ginster eine andere Kopfbedeckung getragen, der Schütze vor dem Hütchen war ihm unangenehm. Die Angehörigen fanden ihn unbegreiflich, ohne jede Teilnahme, wieviel verdiente er jetzt. Sehr schlechte Gehälter. Gegen Abend kam der alte Jugendfreund des Onkels; eigens zwölf Stunden gereist, mit Umstand von fern. Er wollte es sich nicht nehmen lassen. Überlebende Geschwister hatte der Onkel nicht mehr. Wie der Wein, bei dem er manchmal an die Vergangenheit rührte, so glänzten in seinen Erzählungen auch die mit dem

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