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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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Hause. Während des letzten Wegstücks hatte er sich darin geübt, die Zahl der Schritte abzuschätzen, die zur Überwindung einer bestimmten Strecke erforderlich waren; ein Beschäftigungsspiel aus früheren Zeiten, für das sich besonders Laternenpfähle empfahlen. Gelang es ihm, die genaue Zahl im voraus zu treffen, so schien ihm die Zukunft günstig zu sein; wobei er genau darauf achtete, daß er sich durch absichtliche Verlängerung oder Verkürzung der Schritte nicht selbst betrog. Auf Ottos Wunsch ging er noch einen Augenblick mit nach oben. In dem Zimmer herrschte ein Elterngeruch, der von den zwei kleinen Leuten ausstrahlte, die ihren Sohn mit den Blicken verschlangen. Sie verzehnfachten sich, zehn Elternpaare, die ihn umringten, damit die Welt sich seiner nicht bemächtigen konnte. Über dem Bauch des Vaters, der den Rock abgelegt hatte, spannte die Hose, und der Mutterkopf ragte aus einem Hauskleid mit Wellenlinien hervor. Durch die Enge des Zimmers wurde das elterliche Fleisch in die nächste Nähe gerückt, es lag unter einer Lupe, seine Poren öffneten sich, und auch die Gefühle bestanden aus Fleisch. Otto war aus dem Fleisch hervorgegangen, das ihn in seine Mitte nahm und wieder in sich zurückzuholen drohte. Als Ginster sich verabschiedete, stand er fern und verlegen hinter dem lebendigen Wall.
    Das Stück Land im Osten war wieder frei. In den Zeitungen stand, daß die Feinde zu Tausenden in die Sümpfe getrieben worden seien. Vorher hatten sie im Osten gehaust, immer hausten die Feinde. Hunderttausende wurden gefangen genommen, das Publikum beglückwünschte sich zu den Ziffern. Es hatte sich so an die hohen feindlichen Zahlen gewöhnt, die ihm täglich ins Haus geschickt wurden, daß es erst von einer gewissen Summe an zu zählen begann. Ginster beobachtete den Angestellten eines Schreibwarengeschäftes, dessen Selbstbewußtsein sich mit dem Betrag an toten Gegnern sichtbar vergrößerte. Bei der Höhe der Ziffern konnten die durch sie bezeichneten Menschen nicht mitgedacht werden. Da die Abgänge der eigenen Truppen sich aus Angehörigen zusammensetzten, wurden sie niedrig gehalten und als Verluste gebucht. Der einzelne Angehörige blieb zwar ein Mensch, aber die Geringfügigkeit der Gesamtsumme gereichte den nicht betroffenen Familien zum Trost. Daß auch von den betroffenen sich einige durch den Überschuß der fremden Zahlen entschädigt fühlten, bewies eine Familie aus dem häuslichen Bekanntenkreis Ginsters,die den gefallenen Sohn wegen der Sümpfe verschmerzte. Wäre noch ein verwendbarer Sohn im Besitz der Mutter gewesen, sie hätte ihn ebenfalls der Befreiung des Stück Landes zum Opfer gebracht. Das Wort Opfer gebrauchte sie den Besuchern gegenüber, um nicht als gewöhnliche Hinterbliebene zu gelten. Ihr blonder Haarknäuel blitzte bei der öffentlichen Siegesfeier auf dem Opernplatz drohend zu Ginster hinüber, der zufällig neben ihr stand. Er hatte in einer Trambahn den Platz überqueren wollen, aber die Trambahn konnte nicht weiter. Das Blond unterschied sich von geschliffenen Messern nur darin, daß es bereits aus der Ferne verletzte. Die Dame war in einem hellen Kleid erschienen, das ihre Freude über den Sieg verkündete, für den sie den Sohn hatte verlieren dürfen. Während der Musik verwandelten sich ihre Augen in Brennspiegel, die Ginster geblendet hätten, wenn er in den Bereich der Strahlen geraten wäre. Auch die Festfahnen am Himmel strahlten, Wimpel von allen Balkonen. Ein Redner über der Masse feierte die Ziffern in den Sümpfen und das befreite Stück Land. Er erklärte, daß die Bevölkerung um des Landes willen vorhanden sei, für das sie freudig ihr Leben hingeben werde; selber war er noch niemals gestorben. Wenn die ganze Bevölkerung ihr Leben hingegeben hat, dachte Ginster, besteht das Land allein weiter fort. Der blonde Haarknäuel zerschnitt die Menge und schob sich mitten in die Rede hinein, eine Landesmutter, die ihre Söhne versprühte. Ginster sah sie in einem Fallschirm schweben, unter ihr Getreidefelder und Männer mit Sensen. Eine Steindrucktafel, die den Ackerbau verherrlichte, hatte dem französischen Unterricht in einer niederen Schulklasse gedient. Ähre, Schwalbe und Pflug: längst entfallene Vokabeln stellten sich wieder ein. Das blonde Land, glaubte Ginster zu hören.Es wurde auch von den folgenden Rednern befreit, die das gleiche ausdrückten wie der erste; immer von neuem wollten die Leute es wissen. Sie schienen nach Versammlungen Bedürfnis

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