Ginster (German Edition)
zu tragen, in denen sie Tatsachen erfuhren, die sie schon kannten. Zuletzt dröhnte die Nationalhymne, und die Trambahnen begannen zu fahren. Als Ginster nach Hause kam, stand der Onkel vor der Karte, die er an die Türe des Studierzimmers geheftet hatte; die Wände waren mit Bücherregalen besetzt. Auf der Karte saßen Fähnchen und bunte Stecknadelköpfe, deren Ort sich auf die Stellung der Heere bezog. Um nach großen Siegen die Zeichen ungestört weiterrücken zu können, verschloß der Onkel in der Regel die Tür. Ginster durfte das Punktsystem nicht berühren, wie gern er es auch lockerer ausgestreut hätte. Die Stecknadeln, die sich alle auf der Sumpffläche sammelten, wurden von den Fähnchen umkreist, deren Züge der Onkel gerade beschrieb.
»Wenn nur auch die Armeen aus Stecknadelköpfen bestünden«, sagte die Tante. Die Mutter glänzte wie eine Rachegöttin am Horizont, weil die Feinde zu Scharen ertränkt worden waren. Das Sumpfgebiet lag zu weit entfernt. Hätten die Feinde im Waschkessel den Tod finden müssen, so wäre ihnen nichts weiter geschehen. Dem Onkel ging es weniger um Gefühle als um die Verwandtschaft der Schlacht mit einer berühmten aus der Antike. Er verglich die Ziffern der damals vernichteten Kohorten mit den höheren jetzt und stellte eine Betrachtung über den Bevölkerungszuwachs seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts an. Alle bewunderten die Operationen der Fähnchen, die Feldherren und die Masse der Menschen; nur die Mutter begann von neuem zu brüten.
»Die Tagesberichte sind auch so schön stilisiert«, bemerkte Ginster, der den Wunsch empfand, eine anerkennende Äußerung einzuschieben. Seine Beteiligung wurde in Fällen wie diesen erwartet.
»Er hat recht«, sagte der Onkel zu den andern und lobte die knappe Sprache, die den Literaten als Beispiel dienen müsse. Die Tante stürzte sich ebenfalls wortreich auf das Knappe des Tagesberichts. Sümpfe oder Grammatik: sie frohlockten über den Sieg. Bei einer Niederlage wäre die Form der Telegramme unbeachtet geblieben. Der Ausdruck: »Großes Hauptquartier« durchschauerte Ginster. Eine langjährige Freundin war zugegen, die Frau des Kollegen Biehl. »Vielleicht ist der Krieg jetzt zu Ende«, warf sie ein. Ihr Sohn war vor einer Woche ins Feld gerückt. Wer sie zum erstenmal sah, mußte annehmen, daß sie sich gerade vor einer Überschwemmung gerettet hatte: ein paar Lappen eilig übergeworfen, die schwarze Frisur vom Wetter zerstört. Die Feuchtigkeit war in sie eingedrungen, und auf dem glitschigen Erdreich stand nichts mehr fest. Selbst wenn sie einen Tatbestand richtig wiederzugeben beabsichtigte, rutschte er aus und ließ sich nicht fassen. Gewöhnlich allerdings verschmähte sie es von vornherein, ihn zu ergreifen, und phantasierte einen neuen zusammen. Es kam in dem Durcheinander nicht darauf an. Sie gehörte zu den drei oder vier Frauen, für die der Onkel eine Zuneigung besaß, weil sie geduldig seinen Belehrungen lauschten. »Ich glaube auch«, meinte er, zu Frau Biehl gewandt, »daß, wenn wir alle Kräfte nach dem Westen werfen, bald Schluß sein wird.« Ginster sah schon die Fähnchen hinüberwandern. Die Tante widersprach; sie beurteilte die Lage immer düster, um dann angenehm enttäuscht zu werden. Frau Biehl wurde traurig wegen ihres Sohnes, den sie nicht umlügen konnte. Die ganze Welt bestand aus Müttern und Söhnen.
»Du mußt sehen, daß du etwas verdienst«, sagte dieMutter aus ihrem Brüten heraus zu Ginster. Ihre Mahnung drückte ihn nieder. In einem Augenblick, in dem alle Leute vom Sieg erfüllt waren, dachte sie ans Verdienen. Er wehrte sich; lieber schon Krieg. Vielleicht hatten die Begeisterten recht, und nur er verstand den Zusammenhang nicht. Er beschloß, in die Freiwillige Sanitätskolonne einzutreten, die einen Aufruf erlassen hatte. Onkel und Tante pflichteten ihm bei.
Mit anderen Leuten, die er zuerst nicht recht zu unterscheiden vermochte, fand sich nun Ginster während gewisser Stunden in einem Übungsraum ein. Sie wurden von mehreren uniformierten Männern, die sich durch Winkel auf dem Ärmel auszeichneten, im Transport der Tragbahren unterwiesen. Eine Tragbahre hat vier Griffe, konnte also nach Ginsters Ansicht von vier Menschen auf beliebige Weise gehoben und niedergesetzt werden. In Wirklichkeit vollzog sich ihre Bedienung nach einem ausgeklügelten System, das jeder Bahre eine kleine Gruppe numerierter Personen zuordnete, die je nach ihrer Nummer eine andere, genau vorherbestimmte
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