Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
Vom Netzwerk:
Tätigkeit zu verrichten hatten. Entgegen seiner Erwartung, ein für allemal eine feste Nummer zu erhalten, wurde Ginster mit den übrigen Teilnehmern so lange von Nummer zu Nummer getrieben, bis er fähig war, allein die Summe zu bilden. Der Unterricht erstreckte sich auch auf das Anlegen von Verbänden, das bereits zu den höheren Fertigkeiten zählte. Ginster empfand Befriedigung darüber, die reinen Musselinbinden den verschiedenen Körperteilen anpassen zu dürfen. Manche Glieder schienen sich ihrer Gestalt wegen wider eine Verhüllung zu sträuben; aber durch eine geschickte Umkehr mitten im Wickeln oder durch ein Aufspalten der Binden wurden sie schließlichkunstvoll verdeckt. Nummern und Verbände standen in einem Lehrbuch verzeichnet, dessen Vorhandensein für Ginster eine Enttäuschung bedeutete, da er angenommen hatte, daß die Regeln auf mündlicher Tradition beruhten. Bald nach dem Eintritt mußten die Neulinge sich die grauschwarze Uniform mit der weißen Mütze beschaffen. Die Uniform legte auf der Straße Offizieren gegenüber die Verpflichtung zu einer Art von Ehrenbezeugung auf, die indessen fast nie erwidert wurde. Überhaupt genossen Angehörige der Kolonne im Vergleich mit gewöhnlichen Soldaten das geringere Ansehen eines Dienstmädchens, das am Ausgehtag seine Herrschaft kopiert. Die Verbindung mit der Oberschicht stellte allein Dr. Grohmann her, ein in F. ansässiger Frauenarzt, der neben dem ihm durch den Krieg auferlegten Sanitätsunterricht auch noch seine privaten Geburten versah. Er erschien in einer blanken Uniform mit langgedehnten Füßen und einem gleich ausführlichen Schmiß, der so frisch wirkte, als ob er immer wieder nachgezogen werde. Vermutlich hatte der Schmiß zum Erwerb der zahlreichen Damenkundschaft beigetragen, der er seine Villa verdankte. Auf ihre Dienertreppe schien er sich verirrt zu haben, wenn er der Kolonne die Bahren und Wunden erklärte; weiße Mützen waren der Achselstücke nicht wert. Besserte er Soldaten aus, so geschah es nicht um der Soldaten willen, sondern wegen der Front. Sein Heroismus mußte freilich hie und da abgestreift werden, da sonst die Krankheiten zur Villa nicht ausgereicht hätten.
    Nach der Ausbildung wurde die Kolonne in einer Halle einquartiert, die früher zu Varieté-Aufführungen benutzt worden war. Das Varieté war verkracht. Noch strich von damals her vor der ganzen Längswand eine Soffitte hin, auf der sich eine Winterlandschaft mit goldenenKuppeln im Hintergrund entfaltete. Aus dem finsteren Holzlabyrinth der Dachkonstruktion hingen eiserne Kronleuchter herab. Die Halle stand mit einer Wirtschaft in Verbindung, deren Untergeschoß zu einer Kegelbahn hergerichtet war. Oft donnerte es aus der Tiefe wie von Geschützen; aber die Goldkuppeln schwebten unversehrt über dem Schnee, und nur die Kronleuchter begannen zu zittern. Der Bereitschaftsdienst, zu dem die Sanitäter eingeteilt waren, erstreckte sich auf mehrere Stunden in der Nacht oder am Tag. Manchmal wurden Übungen angesetzt, um die Nummern aufzufrischen, und besonders schwierige Wunden markiert. Verbinden mußte Ginster im Ernstfalle nie. Die meisten Leute gingen ihrem Beruf nach und suchten sich den Dienst in die Freizeit zu legen. Sie setzten sich aus kleinen Ladeninhabern und Handwerkern zusammen, zu denen nach und nach immer mehr Kaufleute und Akademiker traten. Mit zweien von ihnen unterhielt sich Ginster oft in der Halle. Landauer, der Sohn eines vermögenden Bildergeschäfts, war ein glatter Junge, der unauffällig die nötigen Schritte für sich unternahm. Schienen Siege den baldigen Abschluß des Krieges zu verbürgen, so behauptete er, die Kavallerie zu lieben und leider zurückgestellt worden zu sein. Er senkte seine Stimme zu einem diskreten Flüstern herab, wenn der Krieg sich gerade in die Länge zog. Wie ein durchdachtes Testament hatte er für die fernste Zukunft vorgesorgt; unmöglich, daß ihm etwas geschah. Seinen Worten war im übrigen anzumerken, daß das Testament Geheimparagraphen enthielt, die erst zu ihrer Zeit bekannt gegeben würden. Weniger versiegelt benahm sich der Dramaturg Renz, der selbsterlebte Anekdoten erzählte. Sie waren ein Transparent, durch das der Reichtum seiner Beziehungen schimmerte. Er hatte ein Engagementnach Breslau in Aussicht, seine einzige Sehnsucht war Berlin. In der Nachtzeit lagen sie häufig nebeneinander auf den Matratzen. Renz hielt sich etwas länger munter als Landauer, der bald unlustig schwieg. Vergeblich bemühte

Weitere Kostenlose Bücher