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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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Jongleuren. Ginster suchte ihnen hinter die Tricks zu kommen, konnte aber niemals feststellen, wie sie hineinzurutschen vermochten. Auf einmal saßen sie drin. Sie hüpften zu schnell. Schließlich mied er die Anlagen und blieb auf dem Pflaster.
    Das Essen verschlechterte sich in den zwei Jahren: eine Zeitlang nur Rüben, kein Fett weit und breit. Die Rüben wurden wie Kartoffeln zubereitet, und die Fleischstücke in Papiertüten gebraten, in denen sie fast so gut schmorten wie in Fett, knusprig geradezu, manchmal schmeckte das Fleisch sogar besser als früher. Ginster wunderte sich, daß man überhaupt zu Originalen gegriffen hatte, wenn es Stoffe gab, die sie ersetzten. Von einem Hammelrippchen, das durch eine besondere Fügung ins Haus kam, machte die Tante schon bei seiner Ankunft ein Aufhebens, als werde durch sein Eintreffen die Niederlage der Feinde besiegelt. Es konnte anbrennen oder sich übermäßig verkleinern: das Dienstmädchen verging in der Küche vor Angst. Kaum war das Rippchen aufgetragen, so wurden seine Färbung und sein vermutlicher Härtegrad erörtert. Daß es sich etwas schwer zerteilen ließ, lag, wie sich später herausstellte, an dem Messer, das wieder einmal geschliffen werden mußte. Der Farbton hätte dunkler sein dürfen. Die Mutter grübelte über die Verteilung der Lebensmittel, das Kartensystem ließ zu viele Lücken für zahlungskräftige Leute, die blühend aussahen, während andere vorschriftsmäßig hungerten. Wenn sie sich beim Anstehen vor den Geschäften benachteiligt glaubte, wütete sie zu Hause; nicht so sehr, weil sie geschädigt war, als der Ungerechtigkeit wegen, die, eine schmutzige Brühe, hoch und höher anstieg. Die Tante stimmte ihr bei, und ebenso beredeten sämtliche Bekannte die Ungerechtigkeiten oder rühmten sich kleiner Hamstererwerbe, um die großen besser verschweigen zu können, die bei jedem vorausgesetzt wurden. Alle rechneten es sich als Verdienst an, die Knochen blank abzunagen. Die Gefräßigkeit erregte den Ekel Ginsters, lieber hätte er gar nichts gegessen oder nur heimlich, er ertrug nicht das viele Kauen so nah um sich her. Vor allem in der Eisenbahn verabscheute er essende Leute; immer ganze Koffer voll Nahrung. Obwohl der Onkel die besten Bissen erhielt, waren seine Bögen nicht mehr so schön geklebt wie im siebzehnten Jahrhundert. Er hatte die Schwelle des achtzehnten überschritten und kam immer langsamer vom Fleck. Die früheren Jahrhunderte waren einfacher gewesen, alles übersichtlich angeordnet, in großen Linien. Auch wurde die Zeit, um die er sich jetzt bemühte, zugleich von einem anderen Kollegen bearbeitet, der wie ein Raubtier die Ereignisse an sich riß. Da er dank seiner Jugend über kräftige Zähne verfügte, konnte er sämtliche Akten verschlingen. Ginster schien es, der Onkel wäre nicht ungern in längst beschriebene Jahrhunderte zurückgekehrt.
    Im Verlauf der zwei Jahre empfing Frau Biehl die endgültige Bestätigung vom Tod ihres Sohnes. Ein Augenzeuge aus dem Feld hatte sich gefunden, der ihr den Hergang berichtete. Der Sohn war tatsächlich in einer Scheune verbrannt. Frau Biehl rechnete sich nach den Angaben ihres Gewährsmannes aus, daß sie zu der Stunde des Brandes ein Konzert besucht hatte. Da die durch dieses Zusammentreffen verschlimmerte Tatsache des Todes sich nicht aufheben ließ, schwieg sie fortan. Das Sprechen hatte nur einen Sinn, wenn es die Wirklichkeit einsperrte und sich in Freiheit erging. Nun war die Wirklichkeit ausgebrochen, die Sprache verweht. Als nach längerer Pause Frau Biehl wieder einmal beim Tee erschien, lächelte sie zeremoniell – den Luftschiffhallen ähnlich, denen freundliche Wälder aufgemalt waren, damit den feindlichen Fliegern ihr Dasein verborgen bleibe. Ginster erzählte eine traurige Geschichte, weil er Geschichten mit gutem Ausgang nicht für passend hielt. Frau Biehl lächelte, lächelte auch über einige Erklärungen, die ihr der Onkel aus freien Stücken lieferte, lächelte über den Onkel, für den sie Verehrung oder Mitleid empfand, wahrscheinlich beides, und schwieg. Ihr schwarzes Kleid war ein undurchdringlicher Dschungel, in dem es Gegenden gab, die noch niemand erforscht hatte. Darüber, üppig emporgeschossen, das Haar, ebenfalls schwarz. Aus der Überschwemmung war Frau Biehl in die Feuersbrunst geraten; alles verkohlt. Wie die Tante mitteilte, vernachlässigte sie jetzt ihren Mann. Er hatte sich in das Mansardenzimmer zurückgezogen, um nach seinen Präpositionen

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