Ginster (German Edition)
zu suchen; während sie selbst unten in der Wohnung saß, die zu groß für sie war, und ihm grollte, weil er angeblich dem Sohn bei seiner freiwilligen Meldung seinerzeit nicht genug Widerstand entgegengesetzt hatte. Der Sohn wäreunter anderen Umständen vielleicht am Leben geblieben. Sie hatte sich diese Geschichte ausgedacht und stöberte gleich weiter in der Vergangenheit. Immer neue Bruchstücke kamen hervor, zahlreich wie die Präpositionen in der Mansarde. Ein Funkenregen, der wieder in sie hineinfiel, denn der Mann oben wollte nichts hören, und so mußte sie auch in dem einzigen Falle schweigen, in dem sie hätte schreien mögen.
In den zwei Jahren kam Ginster regelmäßig mit Hay und Dr. Müller, einem chemischen Assistenten, zusammen; sie trafen sich gewöhnlich freitags am Spätnachmittag in einem Musikcafé. Müller, ein Bekannter Hays, war von einem chemischen Werk reklamiert. Eigentlich hatte sich Ginster mit Hay allein treffen wollen, aber Müller nahm stets an den Nachmittagen teil und beherrschte bald die Unterhaltung. Das Café hatte Glasoberlicht; drei kriegsuntaugliche Musikanten. Hay behauptete, jedes Musikstück zu kennen, und sang sogar mit. Die Gefühle, die er beim Anhören der Musik nie gehabt hatte, wurden mit der Zeit immer echter. Seine Gespräche waren insofern vollständig, als er etwas früher Gesagtes nie zu wiederholen unterließ. Steckten Ginster oder Müller die Hand in die Hosentasche, so bemerkte er stets, daß man die Menschen nach der Art und Weise beurteilen könne, in der sie eine solche Handlung vorzunehmen pflegten. »Der Prolet fährt von hinten in die Taschen, der feine Mann von vorn, so daß sich der Rock nach rückwärts stülpt.« Er führte beide Methoden vor, und wirklich nahm sich die erste in seiner Darstellung besonders abscheulich aus. Das Wort Prolet sprach er in verbissenem Ton, nicht einmal das o gönnte er ihm ganz. Müller lachte dazu. Auch Hay lachte mitunter unvermittelt, oder vielmehr, er grinste, denn ineinem Lokal durfte man das Lachen nicht hören. Sein Grinsen hielt lange vor, ganz japanisch, und mündete in irgendeine Beobachtung, die außer Zusammenhang mit allen vorigen stand.
»Sage einmal, es wird Zeit, daß du dir wieder eine neue Krawatte anschaffst«, redete er Ginster an.
»Die Krawatte ist neu.« Ginster hatte sie vor einigen Tagen gekauft und erwartet, daß sie im Café sofort als neu anerkannt werde.
»Ich meine, ich hätte die Krawatte schon öfters gesehen. Schön ist sie nicht.« Nach einer dem Brüten gewidmeten Pause:
»Die Krawatte paßt nicht zu dir. Eben wird Rigoletto gespielt.«
Müller unterstützte Hay in solchen Angriffen. Nur auf dem Teilgebiet der erotischen Andeutungen sicherte er sich die Mithilfe Ginsters. Die Andeutungen beschränkten sich nicht darauf, lediglich anzudeuten, sondern verzeichneten jede Einzelheit mit der Genauigkeit alter Meister. Zur Dämmerzeit ließ die geringe elektrische Beleuchtung den Resten des Tageslichts, die durch das Glasdach einfielen, noch etwas Raum. Beide vermischten sich zu einer unreinen Trübe, die Sofas und Gäste gleichmäßig umfloß. Grüner Rips, Stühle, die in Loggien hätten stehen sollen, Bürger, ab und zu ein Mädchen. Breit und feucht, als sei die Stimme mit gehamstertem Tafelöl bestrichen, wälzten sich Müllers Andeutungen durch den Qualm seiner großen Friedenszigarren ins Café. Er hänselte Hay, weil er ihn niemals mit einer Frau getroffen hatte, und verweilte behaglich bei den intimen Genüssen, die dem Alleingänger als Ersatz für die fehlende Partnerin dienen. Hay bestritt die Handlungen, die Müller ihm zuschrieb. Um zu beweisen, daß er sie nicht beging, brachteer Geschichten von einem Mädchen vor, mit dem er ein Verhältnis zu haben erklärte. »Die Kleine paßt mir gerade«, sagte er, »sie verlangt zum Glück nicht ausgeführt zu werden und ist zufrieden, wenn ich sie alle acht Tage einmal besuche.« Er brauchte ein Mädchen, das ihn nicht bei seinen Arbeiten über Pflanzensorten in Afrika störte, deren Ergebnisse er so peinlich verschwieg wie den Namen der Kleinen; ihre Bekanntgabe hätte Müller vielleicht veranlaßt, jeden vierten Tag zu ihr zu gehen, immer vorausgesetzt, daß sie überhaupt existierte. Ginster, zum Kronzeugen für Müllers Unterstellungen aufgerufen, versagte sich schon darum nicht, weil er fürchtete, sonst selbst erörtert zu werden. Daß Müller ihn als gleichwertig erachtete, schmeichelte ihm sogar, und da er schon einmal im
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