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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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bei seiner Verfertigung zu befriedigen trachtete. Er trug ein Ideal in sich, dem sämtliche Gesuche entsprechen mußten.
    »Ich glaube wirklich, daß mit dem Satz alles ausgedrückt ist«, brummte er vor sich hin.
    »Doch, er ist schön«, beschwichtigte ihn Ginster, »ich sehe ein, daß es falsch gewesen wäre, ihn persönlich zu halten.«
    Möglicherweise hatte er unrecht, und das Generalkommando verstand den Satz. Herr Valentin setzte jetzt Ginster, kunstgerecht tranchiert, einem Generalkommando vor, dem er zuzugreifen anheimstellte. Das Gesuch für den Schreiner war damals abschlägig beschieden worden. Mit einer Dringlichkeitsbescheinigung von Direktor Baum versehen, wurde die Reklamation abgeschickt. Ginster malte sich aus, daß der Direktor seine eigene Reklamation unter Umständen durch ein gewöhnliches Telephongespräch herbeigeführt hatte. Höhengewitter. Man stellte Ginster auf die Dauer von sechs Wochen zurück. Am Ende wäre es gar nicht so schlimm in einer Garnison gewesen.
    Es folgten viele sechs Wochen, zusammen zwei Jahre. Sie teilten sich in Reklamationen von verschiedener Dauer ein, nach denen Ginster die Zeit bemaß. Früher hatte er immer Pläne für das kommende Jahr gemacht, die Italienreise mit Führer und Karten, aus Pflichtgefühl, damit er wußte, wohin er eigentlich reiste. Solange er sich auf der Reise befand, wäre er lieber zu Hause gewesen. Wie Frachtgut herumgeschoben, die Hotels oft verschmiert. Erst in der Erinnerung gewannen die Orte Glanz. Vielleicht reiste man überhaupt nur, um sich später erinnern zu können. Wenn jetzt eine neue Reklamation zu laufen begann, sah er schon ihr Ende voraus, wie bei einem schönen architektonischen Platz, lauter Wände ringsum. Einige Male erreichte sie ihren Abschluß, ehe noch eine weitere Zurückstellung genehmigt war. Dann mußte jeden Augenblick damit gerechnet werden, daß die Zeit plötzlich aufhörte. Übrigens war die Militärbehörde an die Innehaltung des von ihr selbst gewährten Aufschubs nicht gebunden, konnte ihn vielmehr stets verkürzen; indessen machte sie von dieser grundsätzlichen Möglichkeit nur selten Gebrauch. Gegen das Ende jeder Reklamationsperiode hin verlängerte sich Ginster künstlich die Zeit. Er schob die Stunden unter das Vergrößerungsglas, daß sie zu Tagen wurden, schon in eine Minute ging viel. Sie setzte sich aus einer Anzahl verschieden geformter Teile zusammen und glich einem aufgeblähten Insekt. Niemand hätte hinter ihrer Winzigkeit das Leben gesucht. Kaum war eine weitere Frist eingeräumt, so schrumpfte sie wieder zu ihrer alten Geringfügigkeit ein, eine Minute, nicht mehr. Die Tagesberichte erschienen regelmäßig am Spätnachmittag. Sie galten der Tante als verstümmelte Texte, die der Deutung bedürftig waren. Aus der Tatsache eines kleinen Rückzugs schloß sie auf eine verlorene Schlacht. Umgekehrt wuchs ihre Zuversicht mit der Masse des erbeuteten Menschen- und Kriegsmaterials, das sie im Gegensatz zu dem eigenen Material nicht genug ausplündern konnte. Für Ginster war die feine Unterscheidung zwischen fremden und einheimischen Soldaten unfaßlich. Freilich fühlte auch er sich enttäuscht, wenn die Berichte sich dazu herbeiließen, eine geringe Zahl feindlicher Toter zu melden. Manchmal nur fünfzig. Zwar wurde daheim zu seinem Erstaunen ein einzelnes Sterben immer noch beachtet, aber das allgemeine Sterben draußen war von vornherein auf so hohe Ziffern angelegt, daß seine Verringerung die Empfindungen eher schwächte. Man bildete auch nicht einen Wolkenkratzer ab, der sich auf zehn Stockwerke beschränkte. »Es ist ein großer Fehler der Heeresleitung«, erklärte Hay, »die Tagesberichte mit fünfzig Toten füllen zu wollen.« Jeder einfache Soldat war ein Held, auch die Hausfrauen benahmen sich heldisch. Ginster war von einer Bevölkerung umgeben, die aus lauter Helden bestand. Aus ihrragten besondere Helden hervor, die Flieger abschossen, Schützengrabennester aushoben und Schiffe versenkten. Ab und zu trat ein neues Land in den Krieg. Friedensgerüchte wurden immer rechtzeitig unterdrückt. Der Alltag ging weiter. Er enthielt eine Menge von Schwierigkeiten, die beseitigt werden mußten. Wenn Ginster etwa den Weg zum Büro durch die städtischen Anlagen nahm, sprangen ihm neuerdings Sandkörnchen in die Schuhe. Die Anlagen waren mit frischem Kies bestreut. So vorsichtig er schritt, die Steinchen fanden den Eingang und glitten unter die Ferse. Ihre Geschicklichkeit übertraf die von

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