Ginster (German Edition)
Hieß er ihn bleiben, so mußte das Essen abgebrochen werden, und schickte er ihn fort, so verzögerten sich die Fabriken. Außerdem schämte er sich über die Verlegung eines privaten Vorgangs in die Öffentlichkeit des von ihm selbst zum Büro erhobenen Raums. Frau Berta aß in einem Strickjäckchen ruhig weiter, da ihr unklar war, weshalb in Gegenwart von Gemüsen nicht auch hätte gezeichnet werden können. Der Raum gehörte zur Wohnung. Ginster war zumute, als sei er in ein Familienalbum gefallen. Verdrossen wischte sich Herr Valentin den Mund, zog den Rock an und entfernte sich brummend aus dem zweideutigen Zimmer. Nachdem Anna abgeräumt und die Fenster geöffnet hatte, verwandelte sich das Zimmer wieder in ein Büro. Der Zeichentisch ließ sich mit staubigen Mappen belasten; beflissen unschuldig wie ein Hausmädchen, das heimlich die Nacht durchtanzt hat und morgens in der Schürze die Arbeit tut. Nur Pedro, der schmatzte, erinnerte noch an das Essen.
Gegen Ende des Winters beteiligte sich Herr Valentin an einer Architekturkonkurrenz.
VI
Die Konkurrenz war von der Stadt öffentlich ausgeschrieben worden, zugunsten der toten Soldaten und der notleidenden Architekten. Ein Ehrenfriedhof. Es gab eine Menge endgültig an der Heimkehr verhinderter Soldaten, die früher in der Stadt gewohnt hatten. Ihre Angehörigen wollten sie wieder haben; wenn nicht lebendig, so doch die Leichen. Auch mußten sich die Soldaten selbst in schönen Gräbern zu Hause wohler fühlen als draußen. Manche von ihnen waren zu Lebzeiten mit Frau und Kindern in einem Loch untergebracht gewesen; nun sollten sie wenigstens im Tod besser einquartiert werden. Die blonde Dame aus dem häuslichen Bekanntenkreis Ginsters, die ihren Sohn zum Opfer gebracht hatte, meinte zwar, es läge im Sinn eines Heldentodes, daß der Held gleich dort beerdigt werde, wo er gefallen sei, aber die allgemeine Stimmung erklärte sich für die Herrichtung der Gräber in der Nähe der Familien. Man konnte dann am Sonntagnachmittag die Ruhestätte besuchen. Den Rücktransport der Soldaten in der erwünschten Vollständigkeit durchzuführen, war leider unmöglich. Viele wurden vermißt, und in den Massengräbern herrschte nicht die gleiche Ordnung wie über der Erde. Alles drunter und drüber, nicht zu sortieren. Diejenigen Toten, die leibhaft nicht anzutreten vermochten, plante man städtischerseits mindestens geistig in den Friedhof einzubeziehen. Ihre Namen sollten auf ehernen Tafeln stehen, die an einem Denkmal sichtbar anzubringen waren. Da das Erz fürMunition verwandt wurde, mußten sich freilich die Tafeln bis nach Kriegsende gedulden. Die Stadt hätte gern den ganzen Friedhof vertagt, wäre nicht eine Gruppe von Architekten aufsässig geworden. Sie brauchte Beschäftigung, sonst verhungerte sie. Zum Glück war die Bevölkerung seit Kriegsbeginn zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengewachsen. Aus Mangel an Baubedarf für die Überlebenden sah sich die Stadt genötigt, den Friedhof schon jetzt auszuschreiben. Herr Valentin hatte bei den Kommissionen erreicht, daß die zur Teilnahme herangezogenen Baukünstler eine angemessene Entschädigung erhielten. Der Gegenstand des Wettbewerbs galt ihnen im übrigen gleich; sie hätten genau so bereitwillig Wohnhäuser entworfen. Das von der Stadt angekaufte Gelände lag auf einem erhöhten Punkt, von dem aus die Gräber eine herrliche Aussicht genossen.
»Hier also sind die Unterlagen«, sagte Herr Valentin und zauberte, ein Taschenspieler, aus dem Nichts zerknüllte Papiere hervor, die auf den Boden fielen, ehe sie die Tischkante erreichten. Ginster hob die Papiere auf. »Verzeihung«, brummte Herr Valentin. Er hatte sich niedergesetzt, um einige Anweisungen zu erteilen, wie er sagte. Dicht neben ihm stehend Ginster, ein intimes Zusammensein, jedes Härchen Valentins einzeln zu sehen.
»Wie möchten Sie eigentlich den Entwurf?« fragte Ginster. »Ich meine nur. Im allgemeinen.«
»Eine Hauptschwierigkeit«, erwiderte Herr Valentin, »ist die unbestimmte Anzahl der zu projektierenden Gräber. Die Zahl der bereits gefallenen Soldaten habe ich zwar durch einen mir persönlich bekannten Magistratsbeamten feststellen lassen, aber weiß man, wieviele es zuletzt sein werden?«
»Vielleicht doppelt so viel wie eben?«
Die Verdoppelung war Herrn Valentin zu üppig. Lieber weniger und nicht so leichtfertig abgerundete Ziffern. Er ärgerte sich, daß die Soldaten nach und nach fielen, statt schon jetzt fertig für den
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