Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
Vom Netzwerk:
zu erlangen gewesen wären. Sämtliche Gründe, die Hay in Gesprächen immer wieder für den Krieg verantwortlich machte, wies Professor Caspari von vornherein als zu oberflächlich ab. Weder unsere auswärtige Politik noch der Neid der Feinde auf unsere geschäftlichen Erfolge trügen am Völkerweltringen die Schuld; die echten Gründe seien viel tiefer gelegen. Ginster verlor den Glauben an Hay und nahm sich vor, ihm die echten Gründe später zu sagen. Es mußte schwierig sein, sie hervorzuziehen, denn Professor Caspari vollführte Bewegungen, als schöpfe er mit den hohlen Händen Wasser aus einem See. In ihn waren die Gründe versenkt. Nach und nach wurde offenbar, daß sie sich aus dem ergaben, was Professor Caspari als das Wesen der Völker bezeichnete. Jedes Volk hat ein Wesen, sagte Professor Caspari. Er hatte große Augen – Ginster saß nahe genug, um sie erkennen zu können –, die sich nicht nach innen richteten wie bei manchen anderen Professoren, aber auch eigentlich nicht den Raum durchmaßen. Sie erschauten die Wesen. Ginster fühlte, daß sie bis in die äußerste Tiefe drangen, hinter den Raum. Ein Frostschauer lief ihm über den Rücken, noch nicht geheizt, viele Leute saßen in ihren Mänteln. Das Wesen der westlichen Völker, sagte Professor Caspari, ist von dem unsrigen durchaus verschieden. Während wir den Militarismus um seiner selbst willen pflegen, dient er ihnen nur als Mittel zum Zweck; während sie auf die politische Freiheit Wert legen, ist es uns allein um die innere zu tun. Die Zustimmung des Publikums bewies, daß es sich in der Schilderung wiedererkannte. Unwillkürlich ahmte Ginster die Augen Professor Casparis nach, um die Wesen auch anzuschauen. Das Bertas war unter allen Umständen ein Mosaik. Er blickte in sich hinein: kein Wesen vorhanden, nur der Gedanke, daß er in vier Tagen einrücken müsse. Joko, hatte der Papagei immer geschnarrt. Die Wesen der Völker, sagte Caspari, sind unveränderlich und beschwören durch ihre Beschaffenheit zwischen den Nationen Mißverständnisse herauf, die sich schlechterdings nicht beseitigen lassen. Er trank einen Schluck Wasser, das Publikum war bedrückt. Ginster sah ein, daß er, ohne es zu ahnen, für immer in einem bestimmten Wesen gefangen sei, das ihn ebenso bedingte wie die militärische Stammrolle, aus der seine Lebensdaten folgten. Wenn er unter den westlichen Völkern aufgewachsen wäre, hätte er ein ihm feindliches Wesen gehabt. Dem Banne der Völkerwesen schien einzig Professor Caspari entronnen zu sein, der sie alle überschaute und wie ein Zauberer so lange mit ihnen verfuhr, bis der Krieg unvermeidlich wurde. Die Weltkatastrophe, sagte Professor Caspari, ist ein notwendiges Ereignis, das seinen Grund in der Wesensverschiedenheit der Nationen hat. Ginsters Augen waren bereits so geschult, daß er sich die Wesen vorstellen konnte, wie sie sich nicht verstanden und darum miteinander stritten. Im stillen bemitleidete er ein wenig die Tante, die immer noch der Meinung war, daß die Niedertracht der Gegner und unsere schlechten Diplomaten den Krieg herbeigeführt hätten. Sie sagte unsere, als ob die Diplomaten von ihr angestellt worden seien. Freilich bot die Denkweise der Tante den Vorteil, daß sie leibhafte Menschen ins Unrecht setzte und das eigene Volk im allgemeinen für schuldlos erklärte. Mochte die Tante falsch unterrichtet sein, sie schied wenigstens zwischen Guten und Bösen. Casparis Wesen dagegen entzogen sich jedem Angriff, da sie unkörperlich und zugleich notwendig waren: auch die westlichen. Die Wesen der Völker, sagte Professor Caspari, sind, wie sie sind. Des Publikums bemächtigte sich eine spürbare Enttäuschung. Der Vortrag hatte bereits über eine Stunde gedauert und den vaterländischen Krieg noch nicht im geringsten verherrlicht. Bald mußte das Ende beginnen. Im Schlußteil auf die Forderung unseres Waffensiegs zu verzichten, war erfahrungsgemäß unmöglich. So sehr Ginster begriff, daß Professor Caspari im Eifer der wissenschaftlichen Überzeugung ringsum nur Notwendigkeiten erschaute, so sehr befürchtete er, daß von solchen Voraussetzungen aus das gewünschte Ziel nicht erreicht werden könne. Wie ließ sich unser Wesen über das westliche erheben, wenn es zuerst seinen Platz neben ihm hatte? Gewiß scheuten die meisten Redner vor Gedankensprüngen nicht zurück, aber Professor Caspari war viel zu wissenschaftlich, als daß er unzusammenhängendeTatsachen anders als in allmählichem Übergang

Weitere Kostenlose Bücher