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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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gelähmt, mußte er ohnmächtig zusehen, wie sich die Umrisse von den Figuren ablösten und ineinanderliefen. Vielleicht konnte er durch das Rohr blasen. »Nach meiner Überzeugung«, sagte Professor Caspari, »sind wir trotz der Wirren in Rußland verloren. Es sei denn, daß ein Wunder …« Im Vortrag war er anderer Überzeugung gewesen. Er blickte zur Decke auf, die ganze Gesellschaft blickte, wie bei einem Propheten. Über einem wandernden Dunststreifen war Frau van C. in die Luft gemalt, ganz fern, nicht mehr zum Greifen. Die Augen des Bildes hingen an Caspari. Sie hat doch einen Mann, fiel Ginster ein. Aber er verfolgte den Faden nicht weiter, sondern hielt vorsichtig an sich, denn gerade flog er aus seinem dunklen Kasten in einer Seifenblase hinaus. Durchs Rohr geblasen er selber. Beim Kaffee gellten die Gespräche unablässig im Zigarettenrauch, Nebelhörner von Schiffen. Das Ausland, die einflußreichen Persönlichkeiten, Städteund Frauen, ein Getute von Namen. Der Wasserfall donnerte. »Reisen wäre schön«, sagte Ginster plötzlich, »ich meine nämlich, wenn es ginge … nur eben der Paß.« Sie sahen ihn an. In vier Tagen muß ich einrücken, dachte er. Die Seifenblase war geplatzt. Wohin nur das Schaumhäufchen fiel, überhaupt die Reste und dreckigen Sachen. Er zog das Portemonnaie aus der Tasche; die Rechnung war schon beglichen. An der Außenseite des Portemonnaies hing ein Stück Leder herunter, das er verlegen zu bedecken suchte. Seine Hand benahm sich wie ein Anfänger auf der Bühne.
    Draußen spaltete sich die Gesellschaft in zwei Teile, die nach verschiedenen Richtungen gingen. Ginster verzögerte unnötig die Trennung, weil er nicht wußte, welchem Teil er sich anschließen solle; vielleicht auch geradeaus allein. Zuletzt folgte er der Gruppe Professor Casparis, zu der nur noch der Herr im Pelz und Frau van C. gehörten. Da er von Frau van C. unbeachtet gelassen worden war, wollte er sich wenigstens in ihrer Gegenwart nicht um sie kümmern. Sie blieb indessen mit ihm hinter Caspari zurück, dem sie den Pelz aufgehalst hatte.
    »Ist Ihnen eigentlich bekannt«, fragte sie, »daß Mimi und Schilling verheiratet sind? Kriegstrauung; ein Kind. Schilling wurde an der Front verwundet und hat jetzt einen Posten in Berlin.«
    »Sicher ein Mädchen.«
    »Von wem reden Sie?«
    »Ach nichts. Nur das Kind.«
    Das Lachen Casparis war in der Dunkelheit zu hören, ein Gekicher, das Ginster an die Freitagnachmittage mit Müllers Witzen erinnerte. Er hätte nicht vermutet, daß der Professor so kichern könne. Im Schein einer gerade vorüberkommenden Gaslaterne schüttelte sich der Pelz.
    »Der Vortrag war wundervoll«, sagte Frau van C., »fanden Sie nicht?«
    »Joko.«
    »Wie meinen Sie?«
    »Ich meinte nichts.«
    »Was halten Sie, wenn ich fragen darf, von Caspari selbst?«
    »Er hat ein Wesen.«
    Schweigen. Ginster blickte zu Boden, dann flüchtig nach rechts oben. Sie war eine Dame im Hut. Wie eine Küstenkanone gegen das Meer gerichtet, um den Strand zu verteidigen.
    »Es scheint, daß Sie verdrossen sind«, sagte sie, »waren Sie schon im Feld, oder beschäftigt man Sie hier in einem Büro?«
    »In vier Tagen muß ich einrücken.« Nachträglich fiel ihm ein, daß nur mehr drei Tage blieben, Mitternacht war vorüber.
    »Das ist peinlich.«
    Sie hatte peinlich gesagt. Als sei er ein kleiner Eisenbahnknotenpunkt, an dem ihr Schnellzug zwei Minuten Aufenthalt hatte. Gelangweilt sah sie zum Fenster hinaus.
    »Warum haben Sie mich aufgefordert, nach dem Vortrag mit Ihnen zusammenzusein?« Gegen seinen Willen wurde die Frage laut. »Ein Stündchen plaudern? – ich hätte gehen sollen. Aber es ist meine Schuld.«
    »Sie haben Angst vor dem Militär. Das ist das Geheimnis.«
    »Ich möchte leben.«
    »Die vielen Männer draußen, bedenken Sie doch, für alle ist Krieg. Caspari sagt …«
    Er wollte nicht mehr reden, sinnlos die Worte. Hielt den Atem an, dachte in Satzteilen. Sie sprangen davon wie die ungesattelten Mustangs aus seinen Indianergeschichtenüber die Steppe. Hinten schwang er den Lasso; es war schon zu spät.
    »Hätten Sie nur gleich feige gesagt. Vielleicht bin ich feig. Sie reisen überall hin, in die Städte, sprechen mit Menschen, nicken und lächeln, sind fort. Schweiz, Holland; der Glanz, in dem Caspari sich sonnt, wie er auf seinen Wesen klimpert und kichert. Niemand merkt, daß er sich fortwährend vergreift. Ich bin jetzt achtundzwanzig Jahre alt und hasse die Architektur, meinen Beruf.

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