Ginster (German Edition)
Felsenwege hinan, deren Vorsprünge für Verstecke geschaffen waren, kein Garten mehr, sondern eine Wildnis, die Vexierspielen an Unübersichtlichkeit glich. Es brüllte in ihr von Zeit zu Zeit. Kaum hatte sie ihre Schrecken entfaltet, so schloß sie sich wieder zusammen, als sei sie in die Tasche zu stecken. Sie mündete in eine Burgruine, die sich in einem Teich tief unten spiegelte, den eine Prachtfassade begrenzte. Daß die Fassade trotz der eingeschobenen Wildnis die Rückseite des gleichen Gebäudes war, dessen Front vor den Papageien verlief, hatte Ginster erst allmählich herausgebracht. Das Halbdunkel im Saal machte ihn müd. Er sah Pfeilerflächen, ahnte die Nischen, vorne das Podium, Galerien über ihm – ein ausgedehntes Gebiet voller Bestandstücke, die am falschen Ort saßen, sodaß, der Raummassen ungeachtet, das Publikum überall weggedrängt wurde. Hier war er, wie ihm einfiel, vor dem Krieg schon gewesen, bei einer öffentlichen Belustigung zwischen Bogenlampen und Stützen, um sich ein Mädchen zu holen. Man tanzte zunächst, trank Zitronenlimonade und wurde später vertraulich. Der Plan, der leicht durchzuführen schien, war nicht etwa der besonderen Ansprüche Ginsters wegen gescheitert; vielmehr: die Mädchen hatten bereits sämtlich einen Partner gehabt. So war ihm nichts anderes übriggeblieben, als sich an eine Kante zu lehnen und nach einer Weile unbemerkt zu verschwinden. Am wohlsten hatte er sich noch während einer humoristischen Einlage gefühlt … In einem fort wurden Stühle hin- und hergerückt. Wer will unter die Soldaten, dachte Ginster und entsann sich seines Kinderschaukelpferds, das Rara gerufen wurde. »Ich habe niemanden mehr als mein Rara gern«, sollte er, einem häufig wiederkehrenden Bericht der Tante zufolge, als Bübchen unter Weinen beteuert haben, nachdem ihm eine schwere Kränkung zugefügt worden war. Groß und zerfetzt trat jetzt das Schaukelpferd vor ihm an, er bestieg es und ritt auf ihm über den Stimmenlärm, den die Kratzer der Stühle durchfurchten. Die Stühle standen vereinzelt umher, statt fest miteinander verbunden zu sein. Einige Bogenlampen entzündeten sich, es mußte gespart werden, die Flieger. »Guten Abend!« hörte er zu sich sagen. Eine Dame, er kannte sie nicht. »Wissen Sie nicht, wer ich bin? So strengen Sie Ihr Gedächtnis einmal an.« Die rötlichen Haare, das Fest in M.: sie hing mit Mimi zusammen, die Dame, aus Holland, nur wie sie hieß, war ihm entfallen. Da eine Menge minderwertiger Telefonnummern sich ungefragt in ihm festgesetzt hatte, flohen ihn immer die wichtigen Namen; als wollten sie in der Nachbarschaft von Ziffern nicht leben. »Erwarten Sie mich bitte nach dem Vortrag am Eingang«, sagte die Dame, »wir plaudern dann noch ein Stündchen. Wenn es Ihnen recht ist.« Leichtes Kopfnicken, Lächeln, sie begab sich nach vorne. Ginster folgte zögernd, von der Empfindung gepeinigt, daß das Gespräch verfrüht abgebrochen sei. Er hätte sich nach etwas erkundigen oder eine Frage stellen sollen; welche Frage, wußte er freilich im Augenblick nicht. Unerreichbar für ihn stand die Dame in einem kleinen Menschenknäuel dicht beim Rednerpult, Bekannte vermutlich, denen sie zunickte wie ihm, dasselbe fertige Lächeln, meilenweit fort. Nach dem Vortrag würde er sofort nach Hause gehen; es hatte doch keinen Zweck. An einem der Herren im Knäuel hing ein wallender Bart, auf den gerade ein Lichtschimmer fiel. Der Bart verwandelte sich ineinen bengalisch beleuchteten Wasserfall, dem zu Triberg gleich, wo Ginster sich als Schüler einmal in den Sommerferien aufgehalten hatte. Professor Caspari hatte mit den Kriegsgründen begonnen, das heißt, er fing noch lange nicht an, sondern bereitete den Anfang erst vor. Von seinem Studium her erinnerte sich Ginster, daß die Dozenten, ehe sie ihr eigentliches Thema besprachen, stets bei einer Einleitung zu verweilen liebten, die bis ins Unendliche reichte; wie die indischen Fakire, die an einem Seil zum Himmel emporklettern. Gewöhnlich kamen sie dann gar nicht mehr zur Erde zurück. Ein Professor in M. hatte sich seinerzeit gelegentlich eines Vortrags über Sozialpolitik genötigt gesehen, zunächst die Einzelausdrücke sozial und Politik zu erklären; niemals erfuhr Ginster, was das zusammengesetzte Wort Sozialpolitik selbst bedeutete. Geschah es aber doch einmal, daß die Redner aus ihren Einleitungen heimkehrten, so brachten sie in der Regel Behauptungen mit, die nach seiner Meinung auch ohne Reise
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